Ratschläge, Listen von Opfertieren, politische Erlasse: Solche altgriechischen Inschriften auf Stein, Metall und Keramik sind weniger bekannt als Homers Epen oder Sapphos Gedichte. Doch diese Kurztexte sind ein wahrer Schatz: Sie erschliessen den Alltag im antiken Griechenland. Doch bleibt dieser trotzdem oft bruchstückhaft, denn die frühen Inschriften sind voller Lücken.
Um diese Lücken zu verkleinern, haben Geisteswissenschaftlerinnen und Informatiker verschiedener Universitäten zusammen Google die künstliche Intelligenz Ithaca entwickelt. «Dieses tiefe neuronale Netz kann als erste KI antike Inschriften vervollständigen, aber auch datieren und verorten», sagt Projekt-Co-Leiterin Thea Sommerschield von der Universität Venedig.
KI arbeitet genauer als Testpersonen
Einer Studie im Magazin «Nature» zufolge ist die KI bei dieser Arbeit sogar besser als Menschen. So kam sie beim Ergänzen von Wörtern auf eine Genauigkeit von 62 Prozent. Zwei junge Historiker schafften bei einem Test nur 25 Prozent. Mit Hilfe von Ithaca verbesserten sie sich auf 72 Prozent. Beim Datieren und Bestimmen des Herkunftsorts von Texten erzielte die Maschine ebenfalls hohe Trefferquoten.
Klingt gut. Doch sind zwei junge Historiker repräsentativ für alle Fachkollegen? «Natürlich nicht», sagt Christoph Riedweg von der Universität Zürich. Sehr erfahrene Epigrafiker, also Inschriftenspezialisten, wären heute wohl besser als Ithaca, vermutet der Wissenschaftler, der sich mit der Sprache und Literatur des Altgriechischen auseinandersetzt. Nach einer kurzen Überprüfung von Ithaca mit einer vereinfachten Version im Internet sagt er aber auch: «Die Trefferqualität ist wirklich schon erfreulich.»
Aktuell «kennt» Ithaca rund 80'000 altgriechische Inschriften. Diese Datenbasis ist zwar viel kleiner als jene der modernen Übersetzungs-KI, doch sie übertrifft bei weitem das, was ein Mensch sich merken kann.
Wird künstliche Intelligenz Jobs vernichten?
Könnte Ithaca also bald zur unliebsamen Konkurrenz für Altphilologen werden? Christoph Riedweg hat keine Angst um seinen Job. Die KI müsse ihre Inschriften-Kenntnisse noch stark ausweiten. Erst dann könne man sie zuverlässig und breit einsetzen, sagt er.
Wobei: nicht beliebig breit. Eine Ausweitung zum Beispiel auf literarische Texte wäre nochmals ein grosser Sprung nach vorn, da solche Texte deutlich komplexer als Inschriften sind, dazu auch von kreativen Neuschöpfungen geprägt sind. Hier stosse KI an Grenzen – zumindest heute noch.
Beim Restaurieren von Inschriften sieht Christoph Riedweg die menschliche Expertise weiterhin gefragt. Die Entwicklung deute eher auf eine Win-Win-Situation: Die KI nimmt den Fachleuten zeitraubende Detailarbeit ab. Letztere können umso mehr alte Texte sorgfältig restaurieren.
KI kann die Arbeit der Menschen ergänzen
«Es geht hier um Kooperation, nicht Konkurrenz», sagt auch Historikerin Thea Sommerschield. Aus diesem Grund hat ihre Forschungsgruppe Ithaca in der Profi-Version frei im Internet veröffentlicht. So können nun Wissenschaftler rund um den Globus altgriechische Texte eingeben: Die KI gewinnt dadurch an Kraft. Und wird vielleicht bald zu einem mächtigen Werkzeug, um alten Inschriften neue Geheimnisse zu entlocken – zum Alltag in der frühsten Demokratie der Welt.