Die Welten von Lea Ypi könnten unterschiedlicher nicht sein. Ihr Heimatland Albanien war während ihrer Kindheit eine stalinistische Diktatur. Heute lebt die 42-jährige Philosophin in London, einem Zentrum der liberalen Marktwirtschaft.
Wie Ypi zwischen diesen beiden Welten erwachsen geworden ist, erzählt ihre Autobiografie «Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte». Die aussergewöhnliche Lebensgeschichte hat ihr das Rüstzeug gegeben, zu einer der prominentesten politischen Philosophinnen im englischsprachigen Raum zu werden.
Traum der Freiheit
Als Kind hätte Ypi sich nicht träumen können, unfrei zu sein. Immerhin verlauteten ihre Eltern, die Lehrer und der Fernseher unisono, Albanien sei das freiste Land der Welt. Im Land des stalinistischen Diktators Enver Hoxha gehörte es zur bürgerlichen Pflicht, sich frei zu fühlen.
Doch 1990 nahmen die Proteste zu. Das Regime verlor die Kontrolle und Ypi war kein Kind mehr. Der Duft der Freiheit lag in der Luft und die Jugendliche sehnte sich mit der breiten Bevölkerung nach einem Systemwechsel.
Ein philosophisches Erwachen
Ypis Jugend wurde zu einem philosophischen Erwachen. Albanien vollzog den Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus. Zeitgleich wurde Ypi vom Kind zur Jugendlichen, die die Überzeugungen und Regeln ihrer Eltern radikal infrage stellte.
Vor diesem Hintergrund brachen all ihre Gewissheiten in sich zusammen. Was ihr gerade noch als unumstösslich wahr galt, erlag kurz darauf dem Zweifel.
Moralische Freiheit im Innern
In diesen turbulenten Zeiten fand Ypi Halt bei ihrer Grossmutter. Diese lobte die innere Freiheit, die jeder Mensch stets besitze und die selbst eine totalitäre Diktatur nicht vernichten könne.
«Erst die Moral, dann das Fressen», kehrte die Grossmutter das berühmte Diktum von Bertolt Brecht um. So diskutierte sie auch während der Diktatur mit ihrem Umfeld über Politik, wenn auch in Codewörtern.
Das Freiheitsverständnis von Ypis Grossmutter ähnelte jenem des Philosophen Immanuel Kant, ohne dass sie das wusste. Denn auch Kant betonte die moralische Freiheit, die jeder Mensch selbst unter den widrigsten Bedingungen besitze.
Enttäuscht vom Liberalismus
Doch so greifbar die Freiheit während des Systemwechsels auch schien, so schnell platzte der Traum auch wieder. Albanien war fortan zwar keine Diktatur mehr, doch die Freiheitsversprechen des westlichen Liberalismus wurden nur teilweise eingelöst.
Zum Beispiel durften Albanerinnen und Albanern ihr Land verlassen, doch kaum ein Land war bereit sie aufzunehmen. Auch durften sich die Menschen den Job selbst aussuchen, doch es gab kaum Arbeit im Land.
So verstand die jugendliche Ypi, dass man niemals nur für sich allein frei sein kann. Es reicht nicht aus, nur frei von Herrschaft zu sein. Für Freiheit sind wir stets auch auf eine freie Gesellschaft angewiesen.
Freiheit zwischen Kant und Marx
Um also Kants Gedanken einer inneren, moralischen Freiheit realisieren zu können, will Ypi auch eine gesellschaftliche Freiheit denken. Dafür greift sie überraschend auf Karl Marx zurück, den Vordenker des Kommunismus – trotz ihrer Vergangenheit im realsozialistischen Albanien.
Für Freiheit brauche es immer beides: Eine individuelle Freiheit, wie Immanuel Kant sie verstand, und eine kollektive Freiheit, wie Karl Marx sie im Blick hatte. Unsere gegenwärtigen westlichen Gesellschaften versprechen für Ypi glaubhaft individuelle Freiheit, bringen aber gesellschaftlich immer wieder auch massive Unfreiheiten hervor.