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Lehren aus Corona «Meine Freiheit ist auch die Freiheit jeder anderen Person»

Die Corona-Pandemie beschäftigt uns seit eineinhalb Jahren und wirft viele Fragen auf, die unser Zusammenleben betreffen. In Zeiten der Pandemie sei der Respekt zwischen Andersdenkenden besonders wichtig, sagt der Ethiker und Theologe Frank Mathwig. Es gehe nicht um maximale Freiheit, sondern um maximalen Schutz vor dem Virus.

Frank Mathwig

Theologe und Ethiker

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Frank Mathwig ist Titularprofessor für Ethik am Institut für Systematische Theologie der Universität Bern, Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) und Beauftragter für Theologie und Ethik der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (SEK) in Bern. Im Theologischen Verlag Zürich TVZ verantwortet er Schriften zu reformierter Ethik und Kirche.

SRF: Was bedeutet Freiheit in der Pandemie?

Frank Mathwig: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Freiheit nicht schrankenlos ist. Sie muss mit der Freiheit jeder anderen Person abgewogen werden.

Wir mussten Freiheit als kollektives Gut kennenlernen und diese Dimension viel stärker in den Vordergrund rücken, als wir es vor der Pandemie gewohnt waren. Unsere individualistische Lebensweise wurde teilweise revidiert. In diesem Gemeinschaftsdenken mussten wir Freiheit neu entdecken.

Nach Immanuel Kant endet die Freiheit des Einzelnen dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Freiheit ist also per se beschränkt. Es gibt Spannungen zwischen Geimpften und Ungeimpften – und während der ersten Welle zwischen Alt und Jung. Wer muss in dieser Situation auf wen Rücksicht nehmen?

Die Kant'sche Formulierung hat ja keine besondere gesellschaftliche Gruppe im Blick, sondern die einzelne Person: jede und jeder gegenüber jeder anderen Person.

Das ist, glaube ich, die Pointe, warum Kant mit diesem Satz so berühmt wurde: Er nennt keine Kriterien, hebt also nicht besonders vulnerable Gruppen hervor. Kant sagt: Wir müssen in einer liberalen Gesellschaft eine Regel akzeptieren. Nämlich die: Meine Freiheit ist auch die Freiheit jeder anderen Person.

Rosa Luxemburg hat zugespitzt, dass es eigentlich um die Freiheit der Andersdenkenden geht. Das sind nicht nur die Bedingungen des Diskurses, sondern auch des Zusammenlebens.

Ethisch relevant wären der Respekt vor der anderen Person, der Verzicht auf Sündenböcke und ein starkes Bewusstsein für die Verantwortung
Autor: Frank Mathwig Ethiker

Die Leute zeigen gerne mit dem Finger auf jene, die es eben «nicht so gut» machen wie sie selber. Stichwort: Ferienrückkehrer vom Balkan, die Leute, die Party machen. Was kann die Gesellschaft tun, um nicht einem solchen Sündenbock-Denken zu verfallen?

Das ist die grosse Herausforderung. Im Recht finden wir keine Normen, die das verhindern. Die liberale Gesellschaft ist insofern die anspruchsvollste Gesellschaft, weil sie am stärksten eine ethische Reflexion ihrer Bürgerinnen und Bürger einfordert.

Ethisch relevant wären der Respekt vor der anderen Person, der Verzicht auf Sündenböcke und ein starkes Bewusstsein für die Verantwortung, die die Mitglieder der Gesellschaft sich wechselseitig schulden.

In einer freien Gesellschaft, die weitgehend auf sanktionierte Grenzen zwischen den Interessen der einen und anderen Person verzichtet, können wir nur klar kommen, wenn wir uns darauf verpflichten, fair miteinander umzugehen.

Der Staat befindet sich in einem Dauerexperiment.
Autor: Frank Mathwig Ethiker

Eine leise Mehrheit findet, der Staat macht seine Sache gar nicht so schlecht. Zu hören sind aber vor allem die lauten Stimmen. Die einen finden, der Staat tue zu wenig, um uns vor der Pandemie zu schützen. Andere sagen, die Einschränkungen gleichen einer Diktatur. Warum wurde der Staat für manche zum Feindbild?

Natürlich hat er als Absender von Freiheitsbeschränkungen die unkomfortabelste Rolle in dieser Pandemie. Wer keine Verantwortung trägt oder sie verweigert, kann sich problemlos über Freiheitsbeschränkungen aufregen.

Die Behörden erlassen Einschränkungen, weil sie weitreichende Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung haben. Die Freiheitsrechte und die Schutzpflichten müssen immer zusammen gedacht werden.

Der Staat befindet sich in einem Dauerexperiment, besonders jetzt, wo er nicht auf Erfahrungen zurückgreifen kann, wie wir durch die Pandemiekrise kommen und wie das ideale Gleichgewicht zwischen Schutzpflicht und Freiheitsrechten aussieht.

Ich erwarte aber von jeder Person, die dagegen protestiert, dass sie diese doppelte Herausforderung im Blick hat. Das scheint mir etwas verloren gegangen zu sein. Protest muss eine konstruktive Idee verfolgen.

Das Ziel, die eigene Freiheit zu maximalisieren, taugt nicht, wenn es nicht mit dem anderen Ziel verbunden wird: Wie kann ich Menschen davor schützen, durch das Virus schwer zu erkranken oder zu sterben?

Das Gespräch führte Raphael Zehnder.

SRF 2 Kultur, Kontext, 21.9.2021, 9:03 Uhr ; 

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