Seit vier Wochen wird im Iran gegen das islamische Regime protestiert. Die Proteste begannen, nachdem die Iranerin Mahsa Amini in Gewahrsam der religiösen Sittenpolizei verstorben war. Sie war verhaftet worden, weil ihr Kopftuch angeblich falsch gesessen hatte.
Der Vorfall hat Proteste im ganzen Land ausgelöst: auf der Strasse werden Kopftücher verbrannt, Haare abgeschnitten und es wird nach Freiheit gerufen. Oft werden für die Proteste religiöse Symbole benutzt. Doch wie viel haben die Proteste tatsächlich mit Religion zu tun?
Welche Rolle spielt die Religion für die Bevölkerung? Auf Bildern aus dem Iran ist der Islam omnipräsent: Frauen sind am ganzen Körper verhüllt, Männer tragen oft traditionelle islamische Kleidung. Doch laut einer Studie aus dem Jahr 2020 hat der Iran keine mehrheitlich islamische Bevölkerung mehr. Nur noch rund 40 Prozent verstehen sich laut der Studie als muslimisch. Diese Zahl weicht deutlich von den offiziellen Zahlen des Regimes ab, das behauptet, 99 Prozent der Bevölkerung sehe sich als muslimisch.
Die Sittenwächter sind ein Kontrollinstrument des Regimes.
«Die iranische Gesellschaft ist weniger religiös als man glaubt», bestätigt Farida Stickel, Religions- und Islamwissenschaftlerin an der Universität Zürich. Der Alltag der Menschen im Iran sei trotzdem von Religion durchdrungen, «aber nicht, weil sie davon überzeugt wären, sondern weil sie dazu gedrängt werden», so Stickel.
So werden Kleidervorschriften zum Beispiel von den religiösen Sittenwächtern überprüft. Diese hätten die Macht, Menschen festzunehmen oder sie in Kurse zu schicken, wo sie das «korrekte» Tragen eines Hijabs lernen sollten. «Die Sittenwächter sind ein Kontrollinstrument des Regimes – vor allem gegenüber Frauen», erklärt die Religionswissenschaftlerin.
Lassen sich Religion und Politik trennen? Der Iran ist seit der Islamischen Revolution von 1979 eine «islamische Republik». Die politischen Anführer sind zugleich auch religiöse Autoritäten. Die Herrscher-Elite legitimiert ihre Macht im Namen der Religion. Mit dem derzeitigen Regime gehen Religion und Politik klar miteinander einher.
Das Regime habe in der Vergangenheit auch keine Bereitschaft gezeigt, auf die religiösen Vorschriften oder den Einfluss der Geistlichen auf die Politik zu verzichten. Wenn nun die Bevölkerung einen säkularen Staat verlange, sei das mit dem aktuellen Regime nicht möglich. Es brauche einen kompletten Regimewechsel, erklärt Farida Stickel.
Wie kommt es, dass das Kopftuch – ein religiöses Symbol – in den Protesten eine starke politische Bedeutung erhält? Das islamische Regime benutzt religiöse Symbole dazu, die Bevölkerung zu kontrollieren: Frauen müssen sich in der Öffentlichkeit verhüllen. Das Kopftuch erhalte damit auch eine klar politische Dimension, sagt Stickel. Der Hijab werde benutzt, um Frauen im Iran doppelt zu unterdrücken; sowohl als iranische Bürgerinnen, als auch als Frauen.
Für die Frauen sei das Kopftuch also primär das Zeichen der islamischen Republik. Dass viele Frauen ihr Kopftuch in den Protesten ablegen oder sogar verbrennen, ist sehr mutig. Damit riskieren sie ihr Leben, weil eben das Kopftuch nicht nur ein religiöses, sondern eben auch gleichzeitig ein politisches Zeichen ist. Die Frauen legen es ab, um zu zeigen, dass sie einen Regimewechsel und eine Trennung von Religion und Politik fordern.