Es ist die Krux der Revolution: Eigentlich ist man erst im Nachhinein sicher, dass sie stattgefunden hat. Dies war Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich so, ebenso Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland. Eine Revolution vorauszusagen: eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.
Das sagt auch Elham Manea, wenn sie auf die aktuellen Ereignisse in Iran blickt. Die Politik-Professorin, die an der Universität Zürich lehrt, sagt: «Ich kann nicht in die Glaskugel blicken. Aber für mich ist klar: Die aktuellen Ereignisse sind besonders.» Es sei durchaus möglich, dass man sich in einer «vorrevolutionären Phase» befinde.
Ein Aufstand von unten
Auch Hans-Lukas Kieser ist ein Kenner der Region. Der Nahost-Historiker, der an der Universität Zürich und an der Universität Newcastle in Australien forscht und lehrt, sagt: «Wir können verschiedene Aspekte, welche eine Revolution ausmachen, derzeit in Iran beobachten.»
Aufstände in Iran: Eine neue Form der Revolution?
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Protest, Aufstand, Rebellion, Revolution: Soziale Umwälzungen, wie sie sich derzeit in Iran stark andeuten, werden häufig mit diesen Schlagworten in Verbindung gebracht. Doch ihre genauen Bedeutungen sind oft nicht ganz klar.
Dies gilt allen voran für die Revolution, denn der Begriff wird auch in den Sozialwissenschaften nicht einheitlich verwendet. Schnittmenge der verschiedenen Definitionen scheinen die Voraussetzungen zu sein. So braucht eine Revolution grob gesagt drei Charakteristiken, die gegeben sein müssen: eine Disharmonie zwischen dem politischen und sozialen System, eine ideologische Entfremdung der Gesellschaft vom Staat und die gleichzeitige hartnäckige Unnachgiebigkeit der Regierung. Damit einher geht die Wahrnehmung der Gesellschaft, dass der Regierung keine glaubhaften Reformen mehr zugetraut werden – etwas, was derzeit in Iran der Fall ist.
Hans-Lukas Kieser, Nahost-Historiker an der Universität Zürich, hat in den vergangenen Jahrzehnten vor allem im zweiten Punkt interessante Entwicklungen festgestellt: «Die grossen Ideologien, ich meine damit etwa den Kommunismus, aber auch den türkischen Kemalismus oder den derzeitigen Islamismus in Iran, haben ausgedient.»
Den Menschen gehe es heute um zentrale Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit. Der Leitspruch der iranischen Aufstände – Frauen, Leben, Freiheit – sei in diesem Kontext nicht überraschend. Kieser betont: «Die Menschen wollen ein besseres Leben. Und das bedeutet vor allem mehr Demokratie, nicht das Verfechten einer Ideologie.»
So sei etwa eine kulturelle Kluft zwischen dem Regime und der Bevölkerung, eine schlimme wirtschaftliche Lage und eine breite Unzufriedenheit erkennbar. Vor allem aber sagt Kieser: Die Aufstände seien – und das sei frappant – von unten entstanden, etwas, das beispielsweise auch die Französische Revolution ausgezeichnet habe: «Das ist eine grosse Stärke der Bewegung», so Kieser.
Auch Manea streicht diesen Punkt hervor, denn dieser würde die derzeitigen Ereignisse von Aufständen wie der «grünen Bewegung» von 2009 oder den Protesten von 2019 unterscheiden. «Zum ersten Mal seit der Etablierung des derzeitigen Regimes sehen wir, wie verschiedene soziale Gruppen zusammenspannen.» Egal, ob Mittelstand, Arbeiterinnen, Studenten oder Professorinnen: Noch nie gab es gesellschaftlich eine derartige Geschlossenheit gegen das Regime.
Parallelen zum Arabischen Frühling
Und allen voran: die Frauen. Mit Mahsa Amini war der Tod einer kurdischen Frau der Auslöser der Ereignisse. Denn auch das braucht es für eine Revolution, ein Moment, der als Symbol für den Bruch mit dem Regime in die Geschichte eingeht.
So war es auch 2010 gewesen, als sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi selbst angezündet und somit den Arabischen Frühling eingeläutet hatte.
Aufstände in Iran: Die Welt beobachtet aufmerksam
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Iran ist eine wichtige geopolitische Grösse. Viele Länder beobachten daher die aktuellen Aufstände. Teils auch besorgniserregend, weil sie ihre eigenen Machtstrukturen in Gefahr sehen. Denn Iran spielt nicht nur im Nahen Osten, sondern in der Weltpolitik eine wichtige Rolle.
Zunächst sei Saudi-Arabien zu nennen, sagt Elham Manea, Privatdozentin an der Universität Zürich: «Wir beobachten hier eine neue, junge Führung, die sich langsam vom Wahhabismus – also einer äussert konservativen Form des Islams – distanziert.» Diese Neuausrichtung sei sinnbildlich für den Rückzug des politischen Islams, wenn auch nicht unterschlagen werden darf, dass die saudi-arabische Regierung dauernd Menschenrechte verletzt.
Kriselnde antidemokratische Länder
Weil aber auch andere wichtige Akteure wie die libanesische Hisbollah, die schiitischen Milizen in Irak oder die Huthi-Rebellen in Jemen auf ähnlichen religiösen Ideologien fussten, schauten diese Länder nervös auf die Entwicklungen in Iran, erklärt Manea weiter und hält fest: «Das Überleben dieser Gruppen ist von der iranischen Unterstützung abhängig.»
Doch nicht nur für den Nahen Osten haben die Ereignisse in Iran Folgen. Auch für die Weltpolitik sind sie relevant. Hans-Lukas Kieser, Nahost-Historiker von der Universität Zürich, sagt: «Wir können eine Schwächung der drei antidemokratischen Staaten beobachten.» Damit meint er neben Russland, welches im Krieg in der Ukraine mehr und mehr unter Druck gerät, und Iran auch die Türkei. Dort kriseln gemäss Kieser die Wirtschaft und der politische Islam ebenfalls schwer, auch wenn die Ukrainekrise der Türkei momentan Rückenwind verleiht.
«Auch wenn diese drei Staaten Differenzen haben, stützen sie sich doch gegenseitig», führt Kieser aus. Dies sei trotz Gegensätzen beispielsweise im Syrienkrieg und im Vorgehen gegen Kurden in Nordirak offensichtlich geworden. Kieser sagt: «Wenn eine dieser antidemokratischen Regierungen zusammenbricht, hat das Auswirkungen auf die ganze Welt.»
Manea sieht hier Parallelen. «Der brutale Tod von Mahsa Amini hat ein Gefühl eingefangen. Frauen wollen nicht mehr Diskriminierungen ausgesetzt sein. Und die Männer wollen dies ebenso nicht für ihre Ehefrauen, Müttern und Schwestern.» Der Angriff auf das Kopftuch sei somit gleichbedeutend mit einem Angriff auf das Regime.
«Ideologie des Regimes ist gestorben»
Noch hüten sich aber beide, die derzeitigen Ereignisse als Revolution zu bezeichnen. Kieser nennt zwei Vorbehalte: «Die Bewegung müsste jetzt einerseits einen Weg finden, sich zu organisieren. Andererseits ist die Rolle des Militärs entscheidend.» Stärke dieses der Bewegung den Rücken oder verhalte sich zumindest neutral, könne eine Revolution zustande kommen. Auch Manea betont diese Aspekte.
Eine Revolution kann sich über mehrere Jahre aufbauen.
Und was wäre, wenn das Regime die Aufstände wie 2009, 2018 oder 2019 niederschlagen würde? Kieser sagt: «Eine Revolution kann sich über mehrere Jahre aufbauen.» So dürfe man nicht dem Fehlschluss unterliegen, ein mögliches Ende dieser Aufstände mit dem Ende einer Revolution gleichzusetzen. Denn für Kieser ist klar: «Die Ideologie, welche das iranische Regime vertritt, ist gestorben.» Und auch Manea sagt: «Das Herrschaftsmodell wankt.»
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