Um Rivalitäten, Eifersucht und Gewalt zu verhindern, sollen Gemeinschaften ihre Sünden nicht auf Menschen übertragen. Sondern auf einen Bock – und diesen Sündenbock in die Wüste treiben.
So empfiehlt es die Bibel, genauer: das dritte Buch Moses. Das erfährt man in der neuen Ausstellung «Sündenbock» im Landesmuseum Zürich.
Menschenopfer gegen die Krise
Das Phänomen ist noch älter als der Begriff: In Europa haben die Pfahlbauern ebenso wie die Kelten, Römer und Griechen Krisen durch Menschenopfer bewältigt.
Sie haben Jungfrauen dem Stier verfüttert, haben Männer kopfvoran in Brunnen ertränkt, haben Gladiatoren sich gegenseitig erschlagen lassen.
«Wir wollten eine Ausstellung machen über ein universelles Phänomen», sagt Marina Amstad vom Landesmuseum. «Über einen Mechanismus, der seit Beginn der Menschheit besteht und alle Kulturen, alle Menschen, zu allen Zeiten beeinflusst.»
Ein Wendepunkt: Jesus am Kreuz
Einer oder eine muss den Kopf hinhalten für die Probleme einer ganzen Gemeinschaft: Sei es, um die Götter zu besänftigen, die soziale Gruppe zu stärken oder Konflikte auf eine Person zu kanalisieren.
Dieser Art von kollektiver Gewaltanwendung wollten die jüdische und die christliche Religion einen Riegel schieben. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein, sagte Jesus. Er wurde selber als Sündenbock gekreuzigt und als unschuldiges Opfer beweint.
Mit Jesus hätte der Mechanismus durchbrochen werden können, erklärt Marina Amstatt. «Dass das nicht funktioniert hat, merkt man im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit mit der Verfolgung von Hexen, Juden oder Ketzern durch die christliche Kirche.»
Die Guillotine richtet alle gleich
Eine deutliche Wende im Umgang mit Sündenböcken führte die Aufklärung herbei. Bisher rätselhafte Phänomene wie Seuchen konnten wissenschaftlich erklärt werden. Sie mussten niemandem mehr in die Schuhe geschoben werden.
Das Gewaltmonopol ging an den souveränen Staat. Er urteilte nun über Schuld und vollzog die Strafe.
Dafür erfand der französische Arzt Joseph-Ignace Guillotine sein Fallbeil: Es tötete schmerzlos, schnell und alle Menschen gleich. Zuvor waren etwa Adlige mit dem Schwert hingerichtet und die Armen gehängt worden.
Auch heute greift der Mechanismus
Und heute? Da ist die Gewalt vieler gegen Einzelne immer noch weit verbreitet. Zwar wird die Willkür nicht mehr so blutig zelebriert. Doch an ihrer brutalen Absicht hat sich wenig verändert.
Menschen, die sich in irgendeiner Form am Rand bewegen, werden ausgeschlossen, gedemütigt, verletzt, getötet.
Eindrücklich: der Blick ins heute
Dies wird im letzten Teil der sehr attraktiven und eindrücklichen, unbedingt sehenswerten Ausstellung erzählt. Da hängen 33 Kurzporträts von modernen Sündenböcken.
Das Spektrum reicht von Camilla Parker Bowles, der zweiten Ehefrau den englischen Prinzen Charles, über den sogenannten «Jahrhundertverräter» Jean-Louis Jeanmaire.
Von der Schülerin Amanda Todd, die im Internet ihre Brüste zeigte, massives Cybermobbing erlebte und sich schliesslich das Leben nahm. Bis zum Bangladeshi Kartik Chondro, der 2017 in Rom als «dreckiger Neger» beschimpft und verprügelt wurde.
Das 16-jährige Mädchen und der Mann aus Bangladesch wurden beide zu Sündenböcken gemacht. Damit sind sie nicht alleine: Sündenböcke haben heute noch immer Konjunktur.
Sendehinweis: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 15.3.2019, 6.50 Uhr