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Am Anfang jedes Mobbingprozesses steht ein ungelöster Konflikt: Streit zwischen zwei Personen, strukturelle Probleme, schlecht geführte Teams. Eine Person wird zum Sündenbock gemacht mit dem bewussten oder unbewussten Ziel, sie loszuwerden. Das Mobbing beginnt.
Dabei gibt es einen typischen Mobbingverlauf. So schreibt Heinz Leymann, dessen Bücher als Klassiker der Mobbingforschung gelten. Wird der Prozess nicht gestoppt, hat das fatale psychische Folgen für die Betroffenen.
Darüber hinaus wird es auch teuer für die betroffene Firma und die Steuerzahlenden: Mobbing kann zu Langzeitkrankheit führen, zu Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, Frührente, Invalidität oder Selbstmord.
Das Problem ist bekannt, aber Mobbing bleibt
Seit Heinz Leymann mit seinen Studien das Thema Mobbing 1990 ins öffentliche Bewusstsein brachte, haben viele Firmen Massnahmen ergriffen, um dem Problem entgegenzuwirken.
Doch die Menge der Fälle bleibe konstant, stellt Daniela Giovanoli fest, die Präsidentin der Mobbing-Zentrale Schweiz. Jede Woche melden sich dort sechs bis zwölf Personen. Oft sei ihre Frage: Ist das, was ihnen geschehe, Mobbing?
«Die meisten haben bereits einen langen Leidensweg hinter sich», sagt Giovanoli. «Sie stehen kurz vor der definitiven Arbeitsunfähigkeit. So kann ich zuerst einmal nur raten, einen Arzt oder eine Psychologin zu kontaktieren. Sie kommen oft einfach zu spät», erklärt die Anwältin.
Man will kein Opfer sein
Schlaflosigkeit, Angstzustände, Depressionen: Jahrelange, systematische Attacken auf ihre Würde und ihr Selbstvertrauen machen Betroffenen zu schaffen.
«Viele von ihnen sind sehr leistungswillig und identifizieren sich stark mit ihrer Arbeit», sagt Sabine Welte, Unternehmens- und Managementberaterin in Basel. «Oder besser gesagt: sind es gewesen. Wenn sie zu mir kommen, sind sie oft sehr verwirrt und können kaum glauben, was sie gerade erleben.»
Wer will schon ein Mobbingopfer sein? Zu gross ist die Scham über vermeintlich eigenes Verschulden.
Ihre Klienten nehmen das Wort «Mobbing» ungern in den Mund: «Wer will schon ein Mobbingopfer sein? Zu gross ist die Scham über vermeintlich eigenes Verschulden», so die erfahrene Coachin.
Die Logik eines Mobbingverlaufs
Das «Stigma des Selbstverschuldens» ist fester Bestandteil eines Mobbingverlaufs, dessen inhärente Logik der Psychologe Heinz Leymann aufzeigt.
In der ersten Phase wird ein Opfer festgelegt und mit unauffälligen Gemeinheiten «präpariert»: Man grüsst die Person nicht, lässt sie nicht ausreden, macht Witze über sie.
Die gemobbte Person beginnt, sich zu wehren, pocht vielleicht auf ihre Rechte, versucht den Mobbern ebenfalls Fehler nachzuweisen. Sie hinterfragt sich, die Gedanken kreisen, Schlaflosigkeit und Angst führen zu Fehlern.
Die Mobber geben die Spielregeln vor
Damit spielt das Opfer den Mobbern in die Hände: Sie entdecken zunehmend «schwierige Persönlichkeitsmerkmale» und brandmarken die gemobbte Person als Nervensäge, Zicke, Weichei, Psycho, Eigenbrötler und Schlimmeres.
Viele Mobbingopfer können kaum glauben, was sie gerade erleben.
In dieser zweiten Phase etabliert sich Mobbing: Was immer das Opfer tut, es passt ins Bild, das die Täter skizzieren. Die Mobber haben die Definitionshoheit und geben die Spielregeln vor.
Das Opfer wird «krankgezaubert»
Ist das Opfer in dieser Phase nicht bereits krankgeschrieben oder entlassen worden, folgt die dritte Phase der «destruktiven Personalverwaltung»: Der Konflikt ist so weit eskaliert, das Opfer so «auffällig» geworden, dass Vorgesetzte oder Personalabteilungen den «Fall» zur Kenntnis nehmen müssen.
Doch gerade hier – wo eigentlich Hilfe in Aussicht stehen könnte – drohen weitere Gefahren. Vorgesetzte stufen zum Beispiel die «schwierige» Person als «schuldig» ein, schützen die Hierarchie oder wollen eigene Fehlentscheide verstecken.
Buchautor Heinz Leymann schreibt: Das Opfer erlebt dabei seine eigene Verurteilung, bei der Ankläger, Zeugen und Richter ein und dieselbe Person sind.
Wenn hier immer noch niemand eingreift, kommt es zur vierten Phase – zum bitteren Ende, zum Ausschluss: Die gemobbte Person wird entweder innerbetrieblich kaltgestellt, krankgeschrieben oder in Frührente geschickt.
Die Umwelt, so Leymann, hat das Opfer «krankgezaubert».
Mobbing ist nicht Privatsache
Nach einem längeren Mobbingprozess ist jede Person am Boden. Heinz Leymann kommt nach fast 30-jähriger Forschung zum Schluss: Rettung verspricht nur noch der Gang zu einer Fachperson – einer Anwältin, einem Arzt, einer Psychotherapeutin, einem Coach.
Trotzdem ist Mobbing keine private Angelegenheit, denn die wirtschaftlichen Kosten sind hoch. Leymann hat die Geschichte von Lena, einer Schweisserin aus Schweden, exemplarisch bis ins kleinste Detail nachgerechnet.
Lena wurde von ihren männlichen Kollegen und ihrem Betrieb bis in die Frührente gemobbt: Kleine Hänseleien führen zu leichtem Produktivitätsverlust, es folgen immer öfter Krankschreibungen von Lena, die Suche eines Ersatzes, Zeitverlust durch zahlreiche Diskussionen mit und wegen ihr, Versetzung und schliesslich Frührente mit 39 Jahren.
Fünf Millionen Schwedische Kronen kostete das betriebsbedingte Mobbing Firma und Steuerzahlende – umgerechnet rund 600'000 Schweizer Franken.
Verlässliche Zahlen fehlen
Nicht jeder Fall endet so extrem. Leymann geht von rund zehn Prozent der Fälle aus, die ähnlich verlaufen. Dennoch verwundert es, dass angesichts solcher Kosten nicht mehr gegen Mobbing unternommen wird.
In der Schweiz beginnt das schon damit, dass es keine verlässlichen Zahlen gibt. Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco hat zwar 2002 eine Studie verfasst.
Das Resultat: 7,6 Prozent der etwas mehr als 3000 Befragten leiden unter Mobbing. Aber die Studie war nicht repräsentativ. Volkswirtschaftliche Kosten lassen sich daraus auch keine errechnen, da beispielsweise Frühpensionierte, Langzeitarbeitslose oder IV-Fälle nicht mit einbezogen wurden.
Gegen Mobbing gibt es keine Lobby
Schweden, Spanien und Frankreich haben inzwischen Gesetze gegen Mobbing erlassen. In den meisten anderen Ländern werden lediglich einzelne Tatbestände wie Belästigung oder üble Nachrede verfolgt. So auch in der Schweiz, wo zudem eine verbindliche Definition ebenso wie solide wissenschaftliche Studien fehlen.
Es fehlt den Unternehmen oft am Willen, ihre selbstgesetzten Richtlinien umzusetzen.
«Mobbing hat keine Lobby», stellt die Anwältin Daniela Giovanoli von der Mobbing-Zentrale Schweiz fest. Trotzdem seien die Firmen in die Pflicht zu nehmen: «Auch kleine Unternehmen können festlegen, welches Verhalten sie im Betrieb dulden und welches nicht. Es braucht kein wissenschaftliches Reglement. Aber den Willen, die selbstgesetzten Richtlinien umzusetzen – was oft genug nicht der Fall ist.»
Wie sie das tun können, dazu gibt es inzwischen genügend Fachliteratur. Ratschläge – schreibt auch Heinz Leymann – sind nicht an das Opfer zu richten, sondern an die Betriebe, die Personalabteilungen, die Gewerkschaften. Sie haben es in der Hand, Mobbing zu verhindern.