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Ein Altbau in einer Schweizer Kleinstadt. Frau F., freundlich und herzlich, empfängt mich in ihrer Wohnung. Alles ist blitzblank und aufgeräumt.
«Fünf Jahre nach den Vorfällen kann ich endlich darüber sprechen, ohne in Tränen auszubrechen», sagt die 51-jährige Frau. Dass sie gemobbt wurde, hat sie jahrelang beschäftigt.
«Im Nachhinein staune ich wirklich, was man alles versucht hat, um mich zu plagen, um mich rauszuekeln. Kleine Sachen – aber wenn man die zusammenzählt, war das Grund genug, um zu kündigen.»
Der Auftakt
Im April 2010 trat Frau F. eine Stelle als Hauswartin an: Bürogebäude, Schweizer Kleinstadt. Gleichzeitig bezog sie mit ihrem Mann und einer Tochter im Haus eine Dienstwohnung. Die Probleme begannen in der zweiten Woche, als Frau F. nach Büroschluss die Räume reinigte.
«Unter dem Schreibtisch einer Mitarbeiterin standen sechs Paar Schuhe. Um Staub zu saugen, entfernte ich sie und stellte sie danach wieder zurück. Am nächsten Arbeitstag erhielt ich von der Mitarbeiterin eine Mail und einen Anruf, die Schuhe hätten in falscher Reihenfolge unter dem Tisch gestanden. Ich solle das bitte unterlassen und mich an ihre Reihenfolge halten.»
Dieser Konflikt war der Auftakt zu einer Leidensgeschichte.
Später, im Dezember 2012, würde Frau F. auf Anregung eines Psychiaters die Vorfälle aufschreiben. Ihre chronologische Liste umfasst zwölf Seiten voller kleiner Schikanen, Sticheleien und Gemecker, voller Abwertungen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, voller sozialer Ausgrenzung.
Weitere Vorfälle
Im Mai 2010 beschwerte sich dieselbe Mitarbeiterin, nennen wir sie Frau M., nach der Fensterreinigung seien ihre Pflanzen nicht wunschgemäss aufs Fensterbrett zurückgestellt worden.
«Danach machte sie mir mit grösseren und kleineren Vorfällen das Leben schwer. Ihre gebrauchten, nassen Papiertaschentücher lagen regelmässig neben dem Papierkorb. Schon zwei Tage nach dem Staubsaugen war der Boden in ihrem Büro jeweils wieder übersät mit Krümeln und Unrat», hielt Frau F. fest. Selbst Damenbinden – immerhin in einem Beutel – deponierte Frau M. neben dem Papierkorb.
Die Entschuldigung
Nach einigen Vorfällen wandte sich Frau F. an den Vorgesetzten von Frau M. Dieser beschloss im Sommer 2010, dass die Hauswartin jenes Büro nicht mehr betreten solle, bis sich Frau M. für die Vorfälle entschuldigt habe. Dazu kam es zehn Tage später.
Eine Mitarbeiterin hielt es nicht für nötig, mich zu grüssen. Sie sagte, sie würde mich halt manchmal übersehen.
«Wie sie sich entschuldigte, war eine Farce – ihr Verhalten sprach eine andere Sprache», sagt Frau F. Sie habe immer wieder mitbekommen, wie Frau M. schlecht über sie sprach.
«Sie hielt es auch nicht für nötig, mich zu grüssen. Als ich sie darauf ansprach, antwortete sie, sie würde mich halt manchmal übersehen. Sie entscheide gerne selbst, wen sie grüsse und wen nicht.»
Die Wiederholungstäterin
«Am 4. Dezember 2012 stellte ich beim Verlassen des Hauses fest, dass Frau M. beide Bürofenster gekippt hatte. Seit bald drei Jahren wiesen wir die Mitarbeiter immer wieder darauf hin, dass die Fenster während der Heizperiode nicht gekippt werden dürfen. Ich schrieb Frau M. eine Mail mit dem wiederholten Hinweis, dass sie ihre Fenster öffnen oder schliessen, aber nicht kippen sollte.»
Eine Antwort erhielt die Hauswartin nicht. Am Morgen danach waren die Fenster wieder gekippt. Frau F. traf die Mitarbeiterin beim Lift und fragte sie, ob ihr etwas an den Augen fehle. Antwort: «Nein, die blinde Kuh hier im Haus bist ja du.» Denn Frau F. sieht schlecht und trägt eine starke Brille.
Ich sagte ihr, dass ich ihr gerne mal die Faust ins Gesicht hauen würde, damit sie aus ihrer Traumwelt erwache. Die Drohung war nicht gut von mir.
Die Eskalation
Die Situation eskalierte. Frau M. «rastete aus», erzählt die Hauswartin. «Sie schrie mich an und warf mir an den Kopf, dass ich ihr nichts zu sagen hätte.» Von einer Putzfrau würde sie sich nichts vorschreiben lassen.
«Ich verlor die Kontrolle und sagte ihr, dass ich ihr gerne mal die Faust ins Gesicht hauen würde, damit sie aus ihrer Traumwelt erwache. Die Welt drehe sich nicht um sie allein.»
Zwei Zeugen beobachteten den Vorfall. Doch keiner von ihnen sagte aus, als Frau M. behauptete, die Hauswartin habe sie geschlagen. «Die Drohung war nicht gut von mir», sagt Frau F. «Aber geschlagen habe ich sie nicht.»
Stetes Misstrauen
Eine Aussprache im Beisein des Vorgesetzten von Frau M. fruchtete nichts. Diese bezeichnete die Hauswartin in dessen Beisein als Lügnerin. In der Firma wurde Frau F. darauf angesprochen, dass sie der Mitarbeiterin Schläge verpasst habe.
«Plötzlich lag dann in Büros Geld herum – an Orten, wo man normalerweise keines hinterlässt. Wenn ich unter Tastaturen abstauben musste, lag da eine 20er- oder 50er-Note oder Kleingeld. Oder schön offen eine Schachtel mit 18 Pralinen. Hintenrum habe ich gehört, dass jemand sagte: ‹Wir testen mal, ob sie Pralinen klaut, wenn sie abends staubsaugt›.»
Bei einer anderen Mitarbeiterin hafteten regelmässig Bostitch-Klammern im Büroteppich. So regelmässig, dass auf Absicht zu schliessen war.
Frau F. erzählt präzise und sachlich. Nur manchmal hält sie inne und schüttelt leicht den Kopf, als könne sie noch heute nicht recht glauben, was ihr in jener Firma widerfahren ist.
Der schreiende Chef
Nach der Konfrontation mit Frau M. beim Lift schrieb die Hauswartin dem Firmenchef einen langen Brief, in dem sie die Vorkommnisse auflistete. Sie sei überzeugt gewesen, dass dieser hinter ihr stehen und die Sache klären würde.
Am 11. Dezember 2012 wurde sie zum Chef bestellt, der sie anschrie und die Probleme als «kleine Wehwehchen» bezeichnete. Sie sei «ein Schweizer Bünzli», eine «so pingelige und perfektionistische Person», das sei für ihn nicht mehr auszuhalten.
«Seine Aussagen verletzten mich zutiefst, vor allem, als sie persönlich und noch persönlicher wurden.» Der Chef habe sie nämlich gefragt: «Verweigern Sie sich Ihrem Mann auch, wenn er die Zahnbürste nicht richtig ins Glas stellt?»
Ich habe in meinem Leben schon viel durchgemacht. Aber nichts hat mich so sehr geschmerzt wie das, was ich in dieser Firma erlebt habe.
Der Zusammenbruch
Während des Chef-Monologs riss sich Frau F. zusammen, in ihrer Wohnung weinte sie nur noch. «Ich hatte einen totalen Zusammenbruch.» Noch am selben Abend bekam sie einen Termin bei einem Psychiater, der ihr Antidepressiva und Beruhigungsmittel verschrieb und sie krankschreiben wollte. Doch weil die Firma über Weihnachten zwei Wochen geschlossen sein würde, dachte Frau F., sie würde diese zehn Tage noch durchhalten.
Zur Weihnachtsfeier in der Firma war Frau F. erstmals nicht eingeladen. Putzen musste sie jedoch: «Als ich am 20. Dezember abends ins Sitzungszimmer kam, wo die Feier stattgefunden hatte, hatte ich einen weiteren Zusammenbruch. Überall waren Pommes Chips und Nüsse in den Teppich getreten, Rotwein war auf dem Boden und auf dem Tisch verschüttet. Man hätte meinen können, da war ein Erdbeben.»
Hilfe von aussen
Am 3. Januar 2013 begab sich Frau F. erneut in psychiatrische Behandlung. «Ich habe in meinem Leben schon viel durchgemacht», sagt Frau F. «Aber nichts hat mich so sehr geschmerzt wie das, was ich in dieser Firma erlebt habe. Noch nie in meinem Leben haben mich Menschen so respektlos behandelt, noch nie wurde ich dermassen niedergemacht.»
Und noch nie habe sie so viel geweint wie in jenen Wochen.
Persönlichkeitsveränderung
Frau F. veränderte sich: «Ich wurde misstrauisch. Sonst bin ich sehr spontan und offen. Nun dachte ich bei allem, was ich in der Firma vorfand, das sei wieder ein Test: Vielleicht wollen sie auch da wieder prüfen, ob ich meine Arbeit richtig mache. Alles habe ich doppelt und dreifach kontrolliert, ob nicht noch etwas hinter der Toilette oder unter einem Papierkorb liegt, das ich übersehen habe.»
Kurzum: «Es ging mir gar nicht mehr gut.» Und weil sie mit ihrer Familie im Bürogebäude wohnte und auf der Etage neben der Wohnung auch Büros waren, fühlte sie sich die ganze Zeit beobachtet.
Auch ihr Mann nahm die Veränderung seiner Frau wahr. «Ich habe gemerkt, wie meine Frau leidet, und konnte ihr nicht helfen. Während des Tages war ich weg und musste sie in dieser feindlichen Umgebung zurücklassen. Ich habe erlebt, wie meine Frau von einer offenen, fröhlichen, zuvorkommenden, ideenreichen Frau zu einem Haufen Elend wurde. Zu jemandem, der Angst hat und sich gegenüber anderen Menschen verschliesst.»
Komplettes Kontaktverbot
Herr F. kümmerte sich mit einem Kleinstpensum um die Heizung in diesem Bürohaus. Als seine Frau krankgeschrieben war, übernahm er zusätzlich Entsorgungsarbeiten und stiess im Altpapier auf interne Mitteilungen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwiesen, «mit der Hauswartfamilie nicht mehr zu sprechen, nicht Grüezi und Adieu zu sagen, ein komplettes Kontaktverbot».
Stand das wirklich so in dieser Mail, frage ich Frau F. «Ja, das stand so drin», antwortet sie und schüttelt, noch einmal, sanft den Kopf.
Neubeginn
Im Januar 2013 hatte Frau F. endgültig genug. Als sie und ihr Mann eine neue Wohnung gefunden hatten, kündigte sie. Denn damit mussten sie auch die Dienstwohnung im Bürogebäude verlassen.
Der Neubeginn fiel Frau F. nicht leicht. Sie war erschöpft und war psychisch nicht in der Lage, eine neue Stelle zu suchen. «Ich stand neben mir selbst», sagt sie. Sie brauchte Zeit. Drei Jahre später trat sie eine neue Stelle mit ähnlichem Arbeitsgebiet an, diesmal als Team mit ihrem Mann.
Frau F. hat ihren Frieden und ihre Fröhlichkeit wiedergefunden. Mobbing ist für sie, hoffentlich, für immer passé.