Wenn es um Sexualität und Behinderung geht, darf ein Wort nicht fehlen: das Tabu. Beinahe reflexartig betonen Journalistinnen, Aktivisten und Fachpersonen, das Thema Sexualität und Behinderung sei ein grosses Tabu.
Klaus Birnstiel, Juniorprofessor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaften, leidet an einer schweren Muskelerkrankung und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Er sagt, natürlich gebe es dieses Tabu: «Seit einigen Jahren gibt es aber auch eine enorme mediale Aufmerksamkeit für das Thema. Gerade jetzt, wo der Berlinale-Gewinner-Film ‹Touch Me Not› in den Kinos anläuft, schafft es das Thema wieder in den medialen Fokus.»
Der Umgang mit Sexualität und Behinderung pendle irgendwo zwischen Tabu und Obsession, so Birnstiel.
Tabu und Obsession
Das Tabu wird zum Anreiz, über etwas zu sprechen. Diese Erkenntnis habe der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault in seinem Werk über die Geschichte der Sexualität formuliert, erklärt Klaus Birnstiel: «Das Tabu, nicht über Sexualität sprechen zu dürfen, funktioniert eigentlich genau andersherum. Durch das Tabu entsteht auch ein Zwang, die Sexualität durch permanentes Befragen zur Sprache zu bringen.»
Dies zeigt sich beispielsweise bei der Sexualmoral vieler Religionen, wo traditionellerweise alles verboten ist, was nicht explizit erlaubt ist. Gerade weil das Thema Sexualität tabuisiert ist, können sich Religionen obsessiv damit beschäftigen und dadurch Macht ausüben. Man denke an die Diskussionen über Abtreibung, Fortpflanzung oder Homosexualität.
Penetrantes Nachbohren
Klaus Birnstiel sagt, dass beim Thema Sexualität und Behinderung diese Foucault‘sche Einsicht zutreffe: «Das Thema wird totgeschwiegen und gleichzeitig immer wieder grell in den Fokus gerückt.»
Denn, wo ein Tabu ist, wittern Journalisten meist eine Geschichte. Das kann durchaus aufklärerische Gründe haben: Weil man nur so Öffentlichkeit schaffen kann für Missstände, für Ungerechtigkeiten, für Unterdrückung. Manchmal aber sind die Gründe vielleicht nicht ganz so nobel, sondern eher effekthascherisch, voyeuristisch.
So führe das Tabu teils zu penetrantem Nachbohren – auch bei Journalistinnen und Journalisten. Man will es dann ganz genau wissen. Wie hat denn nun ein Mann in einem Rollstuhl, der körperlich schwer behindert ist, Sex? Wohin mit den Schläuchen? Geht die Missionarsstellung? Solche Fragen wurden Klaus Birnstiel schon gestellt.
Irritierende Distanzlosigkeit
«Manchmal ist es einfach Neugierde. Manche Fragende entwickeln einen fast schon inquisitorischen Ehrgeiz, aus gewissen Leuten herauszuquetschen, was sie im Bett erleben. Weil das offenbar alle brennend interessiert.»
Die nicht-behinderte Mehrheitsgesellschaft scheint hin und wieder erpicht darauf zu sein, Menschen mit einer Behinderung zwischen die Beine zu schauen.
Tabu und Obsession sind dabei zwei Seiten derselben Medaille. Nur: Beides ist wenig hilfreich, wenn es darum gehen soll, einen unbefangenen und respektvollen Umgang mit dem Thema Behinderung und Sexualität zu finden.
Anerkennung sexueller Freiheitsrechte
Der Umgang mit dem Thema ist nach wie vor geprägt von Unbehagen und Unwissen. Die Folgen können fatal sein. Denn wo ein Tabu ist, da gibt es Unterdrückung.
«Möglicherweise sind Menschen mit einer Behinderung heutzutage die grösste Gruppe der sexuell Unterdrückten.» Bei anderen sexuellen Minderheiten zeige sich eine gewisse gesellschaftliche Öffnung. «Die lässt beim Thema Behinderung und Sexualität noch immer auf sich warten. Besonders für jene Leute, die in Institutionen leben», sagt Klaus Birnstiel.
Diese seien nach wie vor stark von ihren sexuellen Bedürfnissen abgeschnitten. «Natürlich gibt es kein Recht auf Sex. Aber es gibt sehr wohl ein Recht darauf, auf dem Weg zur eigenen Sexualität nicht gehindert und eingeschränkt zu werden.»
Denn Menschen mit einer Behinderung stossen auch punkto Sexualität immer wieder auf strukturell bedingte Hindernisse, etwa mangelnde Privat- und Intimsphäre oder mangelnde sexuelle Bildung.
Projektion der Asexualität
Eine Folge der Tabuisierung ist: Menschen mit einer Behinderung werden sexuelle Bedürfnisse automatisch abgesprochen.
Das Thema Sexualität und Behinderung behagt vielen nicht. Klaus Birnstiel spricht vom «Anstössigkeitspotenzial der Thematik». Dieses hätte sich auch in den Filmkritiken zum Film «Touch Me Not» gezeigt, wo sich Filmkritiker abschätzig und entwürdigend über den behinderten Körper des Hauptdarstellers geäussert hätten, so Birnstiel: «In Filmkritiken grosser deutscher Zeitungen hiess es beispielsweise, der Körper des Protagonisten sei ‹abstossend› und ‹ekelerregend›.»
Dies sage einiges über die gesellschaftlichen Verhältnisse aus, so Birnstiel: «Solange solche Texte möglich sind, solange es möglich ist, behinderte Körper dermassen diffamierend zu beschreiben, solange ist eine vollkommen freie und selbstbestimmte Sexualität von Menschen mit einer Behinderung in weiter Ferne.»