Soluna ist eine eindrückliche Erscheinung, ihr Händedruck fest. Die gross gewachsene Frau mit blauen Augen und offenem Lachen arbeitet seit 16 Jahren als Berührerin: Sie bietet Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen erotische Erlebnisse an.
Weil ihre Tätigkeit in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stösst, gibt Soluna ihren bürgerlichen Namen nicht preis. Sie führt ein Doppelleben.
Um die Jahrtausendwende arbeitete Soluna als Pflegefachfrau auf einer Abteilung für Menschen mit körperlicher Behinderung. «Ich habe dort Liebesdramen erlebt», erinnert sie sich.
Sexualität als Lebenskraft
«Die sozialen Medien waren neu im Aufkommen, viele junge Männer haben Dates gesucht. Wegen ihrer physischen Einschränkung wurden sie zurückgewiesen.» Ein 22-jähriger Mann, der ihr ans Herz gewachsen war, beging aus Liebessehnsucht Suizid.
Die Pflegerin beschloss, die Not der Betroffenen zu lindern. Weil sie nur medizinische, aber keine sexuellen Handlungen vornehmen durfte, versuchte Soluna zunächst, Prostituierte für diese Aufgabe zu gewinnen. Als ihre Bemühungen scheiterten, wurde sie mit der Einwilligung einiger Betroffener selbst aktiv. Und fand darin, wie sie sagt, ihre Berufung.
«Ich habe meine private Sexualität in monogamen Beziehungen gelebt und drei Kinder grossgezogen», erzählt Soluna. «Sexualität ist für mich Lebenskraft.»
Als Berührerin will sie diese Lebenskraft in den Körpern von Personen mit Behinderungen freisetzen, auch wenn das als Tabu gilt. «Wir kommen durch die Sexualität ins Leben. Oft ist es das Einzige, was Freude bereitet», sagt sie. «Weshalb sollen sich Menschen mit Behinderung nicht einmal darin akzeptiert fühlen?»
Ausgeschlossen, eingeschlossen
Martin Haug legt die Stirn in Falten: «Menschen mit Behinderungen wurden schon immer ausgeschlossen, eingeschlossen oder Repressionen ausgesetzt.» Diese Abwertung betreffe immer den ganzen Menschen, erklärt der 63-jährige Berner Heilpädagoge: «Auch die Sexualität.»
Das Thema beschäftigt Haug seit seiner Ausbildungszeit, als eine Schar Kinder mit körperlicher Behinderung auf Rollbrettern fröhlich an ihm vorbeiflitzte und seine Vorurteile auf den Kopf stellte. «Diese Vitalität und Freude haben mich nachhaltig geprägt.»
2002 baute der Heilpädagoge die erste Schweizer Fachstelle für die Integration von Menschen mit Behinderungen in Basel auf, die er bis zu deren Schliessung 2015 leitete.
Fehlende Intimsphäre
«Dass Personen mit Behinderung eine Sexualität zugestanden werden soll, übersteigt bis heute das Verständnis unserer Gesellschaft», konstatiert Haug. Besonders für Menschen mit geistigen Behinderungen sei das problematisch.
Viele lebten in Institutionen, die keine Privatsphäre böten. «Die Institutionen sind zwar um Veränderungen bemüht. Aber wie auch in Alters- oder Pflegeheimen wird der Verlust der Intimsphäre völlig unterschätzt.»
Wo es keine Rückzugsmöglichkeiten in die eigenen vier Wände gebe, zeigten sich sexuelle Bedürfnisse in öffentlichen Räumen. Dies würde dann als auffälliges Sexualverhalten klassiert, obwohl es nichts mit der Behinderung selbst zu tun habe.
«Unser Umgang mit der Sexualität von Menschen mit Behinderung ist schizophren», folgert Haug: «Einerseits wird ihnen das Grundrecht auf Liebe und Sexualität abgesprochen. Andererseits wirft unsere Gesellschaft einen voyeuristischen Blick darauf.» Diese Tabuisierung führe zu Aggression, Missverständnissen – und erhöhe das Risiko für Missbrauch.
Wie in einer WG
Stephan Sieber ist Mitglied des Leitungsteams des «WohnWerks» Basel, das 1917 als geschützte Werkstatt und Wohnstätte gegründet wurde. Wo einst Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen an Webstühlen sassen, wird noch immer Handarbeit verrichtet, vornehmlich im Bereich der Konfektionierung und Verpackung. Die meisten Beschäftigten haben eine kognitive Beeinträchtigung, einige sitzen auch im Rollstuhl.
«Dass sich Intimsphäre in Institutionen nicht so leicht garantieren lässt, stimmt zu einem gewissen Grad», räumt der 40-Jährige ein, der den Bereich Wohnen leitet. Es gebe aber sehr wohl Rückzugsorte.
Das «WohnWerk» verfügt über zwei angegliederte Wohnhäuser, in denen 32 Menschen leben. «Bei uns ist es ein bisschen wie in einer WG», sagt Sieber: «In unseren Wohnhäusern können Partner zu Besuch kommen, ihre Beziehung mit den Bewohnern leben und hier auch übernachten.»
Mehr als Regeln auf dem Papier
Dafür brauche es Regeln. Sieber blättert in einem Dossier mit dem Titel «Sexuelle Gesundheit, sexuelle Bildung und Prävention sexualisierter Gewalt». Die subventionierte Einrichtung hat das Konzept nach Vorgaben des Kantons Basel-Stadt verfasst.
Es sieht verschiedene Ebenen der Sexualität vor: «Das fängt bei der Privatsphäre an, geht über die Partnerschaft und Beziehung bis zur eigentlichen sexuellen Aktivität.» Wichtig sei, dass so ein Konzept nicht nur auf dem Papier bestehe, sondern auch vermittelt und gelebt werde.
«Das Erleben der individuellen Sexualität gehört in unseren Augen zu den grundlegenden Menschenrechten», sagt Sieber. Die Klienten könnten mit ihren Bezugspersonen über das ganze Spektrum ihrer Sexualität sprechen, von Verhütung über Beziehungsfragen bis zum Kinderwunsch.
Sexualbegleitung gehört dagegen nicht zum Angebot von «WohnWerk». «Es gibt aber Personen, die das extern in Anspruch nehmen», ergänzt Sieber. Das Fachpersonal könne bestätigen, dass diese Besuche äusserst hilfreich seien: «Die Klienten sind danach deutlich ausgeglichener und weniger aggressiv.»
Widerstand gegen Sexualbegleitung
Die Sexualbegleitung, Sexualassistenz oder das Berühren wird von einigen Einrichtungen der Behindertenhilfe angeboten. Es geht auf eine Initiative von «Pro Infirmis» zurück.
Die Lancierung des Projekts fügte der Fachorganisation für private Behindertenhilfe allerdings einen schweren Imageschaden zu. Der Vorwurf der «Hurerei» liess die Spendeneinnahmen 2003 massiv einbrechen.
«Pro Infirmis» lagerte die Ausbildung zur Sexualassistenz daraufhin aus, an die von Behindertenaktivistin Aiha Zemp (1953-2011) in Basel gegründete Fachstelle für Behinderung und Sexualität (Fabs).
Prostituierte als einzige Alternative
Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Ausbildungsprogramms gehörten nebst Personen aus der Sozialpädagogik auch Quereinsteiger. Für Heilpädagoge Martin Haug, der bis 2010 als Präsident der Fabs amtete, eine schwierige Situation.
«Die Motivation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, mit behinderten Personen intim zu werden, erschloss sich nicht immer», erklärt Haug. «Das Missbrauchsrisiko konnte nicht zufriedenstellend gelöst werden. Zumal behinderte Frauen in Pflegeheimen überproportional von sexuellen Übergriffen betroffen sind.»
Professionelle Prostituierte stellen für Haug deshalb die einzige Alternative dar. «Prostitution ist für Menschen, die nicht in einer Beziehung stehen, ein Weg zu Sex zu kommen», sagt er. «Das sollte auch für Menschen mit Behinderung so sein.»
«Besonderes Einfühlungsvermögen»
«Natürlich birgt die Arbeit als Berührerin das Risiko des Missbrauchs», stimmt Soluna zu, die zusammen mit einem Psychotherapeuten den zweiten Fabs-Ausbildungsgang für Sexualassistentinnen und -assistenten leitete. «Diese Grenzziehung ist auch für das Personal in den Institutionen schwierig. Das weiss ich aus eigener Erfahrung.»
Zu ihrer eigenen Motivation sagt Soluna: «Berührerin ist mein Geldverdienst. Aber es bereitet mir auch Freude, sogenannt geistig Behinderten ein präsentes Gegenüber sein zu können – was oft mit Dankbarkeit honoriert wird.»
Dass ihre Arbeit mit Prostitution gleichgesetzt wird, stört Soluna nicht. Sie ist vom gesellschaftlichen Wert ihrer Arbeit überzeugt. Ihre Tätigkeit lasse sich schwer in Worte fassen und noch schwerer erlernen.
«Ich habe als Escort gearbeitet, aber auch ein Pflegediplom absolviert. Menschen mit geistiger Behinderung können ihre Bedürfnisse oft nicht sprachlich äussern, das setzt ein besonderes Einfühlungsvermögen voraus.»
Machtgefälle erfordert Achtsamkeit
«Ein guter Umgang mit Menschen mit Behinderung hat viel mit Achtsamkeit zu tun», sagt Stephan Sieber. In allen Institutionen, in denen ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis bestehe, gebe es ein Machtgefälle. Das erhöhe das Risiko von Grenzverletzungen und erfordere deshalb einen reflektierten Umgang.
«Es kann etwa vorkommen, dass ein Bewohner jemanden in den Arm nehmen will, obwohl sie sich noch nie gesehen haben», schildert Sieber. «In solchen Momenten ist es wichtig, dass das Personal entsprechend geschult ist.» So würden Klienten vor Übergriffen und das Personal vor dem Vorwurf des Missbrauchs geschützt.
Inklusion: ein Weg mit Hindernissen
Zentraler Punkt im Leitbild von «WohnWerk» ist die Inklusion: die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit einer Beeinträchtigung am gesellschaftlichen Leben. «Dazu stehen wir, auch wenn es auf dem Weg dahin noch viele Hürden gibt.»
Die in der geschützten Werkstatt beschäftigten Menschen beispielsweise könnten auf dem Arbeitsmarkt nicht bestehen, erklärt Sieber. «Es spielen eben nicht nur die Institutionen eine Rolle, sondern auch die gesellschaftlichen Möglichkeiten.»
Um Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft teilhaben zu lassen, müsse Selbstbestimmung in allen Bereichen gefördert werden. Beim Wohnen löse diese den versorgerischen Gedanken langsam ab. «Schlafsäle für 30 Personen gibt es in der Schweiz nicht mehr.»
Die neuen Wohnformen seien aber nicht für alle Menschen mit Behinderung gleich geeignet. Zudem stelle sich ausserhalb des institutionellen Rahmens die Frage nach der Betreuung. «Gesellschaftlich sind wir noch nicht am Ziel angekommen», sagt Sieber. «Da stehen wir uns selbst noch im Weg.»
Selbstbestimmte Lebensräume
Martin Haug stellt die Rolle der Institutionen grundsätzlich infrage. «Für wen sind sie da? Für die Menschen, die dort leben», argumentiert er. «Dann müsste zentral sein, was wir uns alle wünschen: ein gutes Leben, Zufriedenheit, Privatsphäre, Liebe, Selbstbestimmung und Gleichwertigkeit trotz Abhängigkeit.»
Würde man etwa das Grundrecht auf selbstbestimmtes Wohnen umsetzen, wie es die UN-Menschenrechtskonvention einfordere, müssten Institutionen für Menschen mit Behinderungen schrittweise aufgelöst werden, glaubt Haug. «In selbstbestimmten Lebensräumen würden viele der jetzt bestehenden Probleme sofort verschwinden.»
Wohnen in Quartieren könnte Menschen mit Behinderung eine neue Vielfalt an Angeboten und Beziehungen bieten: «Man kennt die Nachbarn, den Pöstler oder ist Mitglied eines Vereins.» Dadurch würden sich auch neue Möglichkeiten zu Intimität und zwischenmenschlicher Nähe erschliessen.
«Menschen mit Behinderung gehören ins Zentrum der Gesellschaft. Nur durch menschliche Begegnungen werden Vorurteile und Ängste abgebaut», sagt Haug.
Ein doppeltes Tabu
Doch solche Fragen blende die Gesellschaft aus. Und das, obwohl ein Fünftel aller Schweizerinnen und Schweizer laut Bundesamt für Statistik von einer dauerhaften Behinderung betroffen sei. Die Hälfte der Bevölkerung wird mindestens einmal im Leben mit einer psychischen Krise konfrontiert, die sie unter Umständen selbst an die Grenzen ihres selbstbestimmten Lebens führt.
Nur wenig trennt Menschen mit und ohne Behinderung: Eine Krankheit, ein Schicksalsschlag, eine Disposition. Die Folgen sind weitreichend. Haug ist überzeugt, dass man die Zerbrechlichkeit des Lebens mehr wertschätzen muss. Denn letztlich erinnert der Anblick einer Person mit Behinderung einen Menschen ohne Behinderung an seine eigene Verletzlichkeit.
Die Sexualität von Menschen mit Behinderungen ist daher ein doppeltes Tabu. Sie wirft existenzielle Fragen auf: Wie kann man seine Sexualität selbstbestimmt leben, wenn genau diese Selbstbestimmung eingeschränkt ist?