Anna hat’s geschafft: Sie hat die Berufsmatur in der Tasche und kann ihr Studium an der Fachhochschule beginnen. Doch der Weg dahin war alles andere als einfach.
Nach der Sekundarschule fand Anna keine Lehrstelle. Die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium hatte sie ganz knapp nicht bestanden. Wie viele andere besuchte sie ein 10. Schuljahr. Rund ein Drittel aller Jugendlichen mit Sek-Abschluss finden nicht direkt eine Anschlusslösung.
Im 10. Schuljahr wurden Anna Lehrstellen nahegelegt, mit denen sie sich nicht identifizieren konnte. Da tauchte eine weitere Option auf: eine berufsbildende Privatschule. «Keine Lehre? Kein Problem», wirbt etwa die Sprach- und Handelsschule Benedict. «Komm zur Laufbahnberatung vorbei und beginne im August Deine Wunsch-Lehre».
Statt in einem Betrieb als Lehrling zu arbeiten und parallel zur Schule zu gehen, bieten berufsbildende Schulen ein anderes System: zwei Jahre Schule und ein Jahr Praktikum, das die Schule vermittelt. Am Schluss steht die Lehrabschlussprüfung und damit eine vollwertige Berufsausbildung.
Ein Abschluss für 30'000 Franken
Solche Privatschulen verlangen in den allermeisten Fällen keine Aufnahmeprüfung und keinen bestimmten Notenschnitt. Für 30'000 bis 50'000 Franken erhält man Zugang zu einer Ausbildung als Kaufmann, Informatikerin, medizinischer Praxisassistent oder Fotografin. In der Schweiz gibt es derzeit rund 50 berufsbildende Privatschulen, vor allem in den grösseren Städten.
Anna erinnert sich, wie einfach die Anmeldung ging. Ein E-Mail genügte und die Schule machte ein Angebot zur Ratenzahlung. Annas Familie konnte es sich nicht leisten, das Schulgeld auf einmal zu bezahlen. Anna opferte ihr Sparbuch. Die Grosseltern halfen mit einem Darlehen. Und Anna begann ihre Ausbildung an der privaten Handelsmittelschule.
Eine Frage des Geldes
Aufgezeichnet hat Annas Geschichte Luca Preite. Er doziert an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und forscht als einer der ersten über Privatschulen in der Berufsbildung. «Man kann sich zwar keine Ausbildung erkaufen», kritisiert er, «aber den Zugang zur Ausbildung schon.» Chancengleichheit sehe anders aus.
Bei Jugendlichen, die nicht auf Anhieb eine Lehrstelle finden, bestehe die Gefahr einer Zweiklassengesellschaft: Die einen könnten sich die Privatschule und damit den Zugang zu angesehenen Berufen und der Berufsmaturität leisten.
Den anderen werde eine «realistischere Berufswahl» nahegelegt. Oft fänden diese sich dann in Berufen wieder, die weniger angesehen und weniger gut bezahlt sind und mit denen sie sich manchmal nicht identifizieren können.
Ein Deutschschweizer Phänomen
Die Anzahl Jugendlicher, die für ihre berufliche Ausbildung bezahlen, hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt, wenn auch auf tiefem Niveau: 2400 waren es laut den neuesten Zahlen, die Luca Preite zusammengetragen hat. Das entspricht rund einem Prozent aller Berufslernenden.
Die privat bezahlte Berufsbildung ist vor allem ein Deutschschweizer Phänomen, die Romandie und das Tessin kennen es kaum. Darüber hinaus sind Vergleiche schwierig, denn das Modell ist kaum erforscht.
Keine Unterstützung bei Belästigung
Anna hat ihre Ausbildung an der privaten Handelsmittelschule durchgezogen, zwei Jahre Schule, ein Jahr Praktikum, mit guten Noten, auch bei der Abschlussprüfung. Allerdings nicht ohne Schwierigkeiten.
Im Praktikum, so erzählt sie, habe ihr Chef sie belästigt. Die Schule teilte ihr mit, sie müsse selbst einen anderen Praktikumsplatz suchen. Wenn sie ihr Praktikum abbreche, müsse sie auch die Ausbildung abbrechen und das Schulgeld wäre verloren.
Anna biss die Zähne zusammen und beendete das Praktikum. Ihr Chef im Praktikum wurde später entlassen. Zudem schaffte sie den Sprung an die Berufsmittelschule. Ohne Privatschule wäre ihr dieser Weg unter Umständen verwehrt geblieben.