Steigt man über die breite Eingangsrampe der Aarhuser Stadtbibliothek Dokk1 zur zweiten Etage hinauf, trifft man auf eine siebeneinhalb Meter hohe Glocke.
«Gong» heisst das Werk der dänischen Künstlerin Kirstine Roepstorff: Jedes Mal, wenn in der Stadt ein Kind geboren wird, können die Eltern vom Geburtsbett aus einen Knopf drücken und in der Bibliothek ertönt ein lauter Gong: ein neuer Erdenbürger in der Stadt! Einer, der mit grosser Wahrscheinlichkeit irgendwann die Bibliothek Dokk1 im dänischen Aarhus betreten wird.
Wer braucht noch Bibliotheken?
Man denkt an die Zukunft. Das gilt nicht nur für Aarhus. Bibliotheken weltweit rüsten sich für neue Aufgaben und Funktionen im digitalen Zeitalter. Drohend schwebt eine Frage über allem: Wozu braucht es noch Bibliotheken, wenn man Wikipedia und Google hat? Mit jeder eingescannten Buchseite scheint es dringender, darauf eine Antwort zu finden.
Statistiken belegen diese Notwendigkeit: In England wurden zum Beispiel innerhalb von fünf Jahren 343 Bibliotheken geschlossen. In Dänemark – einer Bibliotheksnation – hat sich die Anzahl Bibliotheken in den letzten 30 Jahren von 2000 auf 450 verringert.
Der deutsche Berufsverband beklagt das «Bibliothekssterben», denn die Ausleihe gedruckter Bücher geht in unserem Nachbarstaat kontinuierlich zurück: von 219 Millionen im Jahr 2010 auf 193 Millionen in 2016. In der Schweiz ist es weniger dramatisch, aber auch hier nimmt die Zahl aktiver Nutzer merklich ab.
Neuerfindung einer klassischen Institution
Nun sind Krisen ja die besten Momente, um etwas Neues zu erfinden, um widerstandsfähiger zu werden. Und so gibt es auf der Suche nach einer Zukunft für Bibliotheken allerlei Leuchtturmprojekte, die in den letzten Jahren für Aufsehen sorgten.
Bereits in den 1990er-Jahren entstand in San Antonio im US-Bundesstaat Texas die erste Bibliothek, in der es gar keine Bücher mehr gibt. Das leuchtend-bunte Gebäude beherbergt im Inneren einen eher unglamourösen Arbeitsraum mit sehr vielen Computern.
Eine Million Bücher – oder gar keine
In Homestead in Florida soll demnächst die «Cybrary» eröffnen. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt der bisherigen Stadtbibliothek von Homestead und der Firma Landmark Entertainment Group, die sich auf Vergnügungsparks und Casinos spezialisiert hat.
Die zukünftige Bibliothek soll nicht mehr viele Bücher besitzen. Vielmehr wird sich das 16 Millionen Dollar teure Projekt auf E-Books, Laptops und virtuelle Realität fokussieren. Die Besucher sollen von kostümierten Bibliothekaren und sprechenden Robotern empfangen werden.
Für grosses Medienecho sorgt auch die Ende des letzten Jahres eröffnete Tianjin Binhai Bibliothek im chinesischen Tianjin. Zum einen weil das holländische Architekturbüro MVRDV einen spektakulären Bau konzipiert hat. Zum anderen weil man hier ganz auf Bücher setzt – 1,2 Millionen Bücher sind hier vom Fussboden bis zur Decke untergebracht.
Der Mensch steht im Zentrum
Um in die Zukunft zu schauen, muss man aber nicht unbedingt bis nach China reisen. Es reicht ein Blick ins dänische Aarhus. Dort eröffnete 2015 das Dokk1. Die Bibliothek ist viel mehr als eine Lagerstätte für Bücher.
«1998, als wir die erste Idee für Dokk 1 hatten, kam Google auf den Markt», sagt der Direktor Rolf Hapel. «2004 dann Facebook. 2007 kamen die Smartphones. All das passierte während unseres Planungsprozesses. Dadurch haben wir sehr früh begriffen, dass die Technologie nicht unser Massstab sein darf.»
Denn niemand habe gewusst, ob man 2030 noch Bücher besitzen werde. Das Gebäude soll aber mindestens 150 Jahre stehen. Deshalb habe man einen anderen Massstab als die Technik suchen müssen, sagt Hapel. Und man habe eine Antwort gefunden: «Es ist der Mensch.»
Die Technologie darf nicht unser Massstab sein – sondern der Mensch.
Die Bibliothek als Begegnungsort
Auf 18'000 Quadratmetern Fläche wird im Dokk 1 vor allem der Mensch mit seinen Bedürfnissen willkommen geheissen. Hier findet man meterlange Regale für 220'000 Bücher, einen riesigen Familien- und Kinderbereich mit Literatur und Spielwiesen, eine «Gaming Street» für ältere Schulkinder, dutzende Arbeitsplätze mit Computern und viele Ohrensessel mit Blick auf den Hafen von Aarhus.
Überhaupt gibt es viel Freifläche zum Verweilen. Hier fühlt man sich ab dem ersten Moment wohl. Niemand muss etwas konsumieren, das Essen kann mitgebracht werden. Es gibt einen Stillraum für Mütter.
Der Bürgermeister kommt zum Kaffee
Besuchern werden unzählige Veranstaltungen angeboten: ein Pokémon-Club, Kurse für Schmuckherstellung mit 3D-Druckern oder Hausaufgabenhilfe.
Jus-Studenten geben gratis Rechtsberatung, der örtliche Drohnenflug-Verein veranstaltet Kurse und der Aarhuser Bürgermeister beantwortet einmal pro Monat bei Kaffee und Kuchen Fragen.
Sämtliche Räume können von Privaten umsonst gemietet werden, man trägt sich einfach ins Buchungssystem ein. Von 8 Uhr morgens bis 22 Uhr ist das Haus geöffnet, obwohl das Personal nur bis 20 Uhr da ist. Und das Wichtigste: Die Bibliothek ist voll. Jeden Tag. In den letzten drei Jahren stiegen die Besucherzahlen von 450'000 auf 1,3 Millionen pro Jahr.
Bibliotheken als Sehnsuchtsorte
Es scheint, als gäbe es trotz der wachsenden Digitalisierung weiterhin ein Bedürfnis, ja gar eine Sehnsucht nach einem solchen analogen Ort.
Das grosse Stichwort lautet Integration: «Wir haben nicht mehr so viele offene Räume in der Gesellschaft», sagt Bibliotheksdirektor Hapel. «Wir alle leben in unseren ganz eigenen Filterblasen. Im Internet, wo wir uns vor allem unter Gleichgesinnten austauschen, wie auch in der analogen Welt. Ich lebe in einer schönen Nachbarschaft, alle sind gut ausgebildet. Ich komme aber nicht in Kontakt mit Menschen aus anderen Quartieren.»
Weil es nicht viele Orte gebe, an denen man sich sehen könne, sei die Bibliothek eine Ausnahme: «Hier sieht man: Wir sind alle nur Menschen!» Das sei wichtig, sagt Hapel. Denn Menschen sollen sich niederschwellig begegnen können – ohne dafür zu zahlen.
Wir haben nicht mehr viele offene Räume in der Gesellschaft.
Was Rolf Hapel anpreist, nennt sich in der soziologischen Theorie der «Dritte Ort». Ein Ort neben Zuhause und Arbeitsstelle, an dem Begegnung möglich wird. Möglichst unkompliziert und gratis.
Neuer Wein in alten Schläuchen in Liestal
Um zu solchen Begegnungsorten zu werden, müssen Bibliotheken umdenken: «Es geht um einen Perspektivenwechsel», sagt Gerhard Matter, Leiter der Kantonsbibliothek Baselland in Liestal.
«Früher galt die Bibliothek als hochkulturelle und äusserst gescheite Institution – und der Nutzer als dumm. Oder sagen wir zumindest hilfsbedürftig.» Das sei vollkommen überholt. Heute müsse die Bibliothek auf die Bedürfnisse der Besucher eingehen.
Die Kantonsbibliothek befindet sich in Liestal in einem ehemaligen Lager für hochwertige Bordeaux-Weine. Schon im Eingangsbereich begreift man, was Matter meint.
Früher galt die Bibliothek als hochkulturell und der Nutzer als dumm. Das ist vollkommen überholt.
Das Café an der Fensterfront heisst «Willkommen». Grosse, helle Räume erwarten den Besucher. Und die Laterne auf dem Dach leuchtet abends in den Lichthof – Erleuchtung im besten Sinne.
Gerhard Matter, der in Kanada und den USA studiert hat, sieht Parallelen seiner Bibliothek zu den angelsächsischen Public Libraries: Sie waren und sind in den amerikanischen Kleinstädten oftmals die einzigen Treffpunkte. Folgerichtig kann man dort auch Jagdlizenzen abholen oder sein Arbeitslosengeld beantragen.
Was ist mit den Männern?
Wie auch in Aarhus versucht man in Liestal, viele verschiedene Nutzergruppen mit Veranstaltungen anzusprechen. Jugendliche bringen zum Beispiel in der Reihe «Tablet Hero» älteren Menschen den Gebrauch von digitalen Medien bei, es gibt eine Tauschbörse für Sammler von Fussballbildchen oder einen Zeitschriftenverkauf.
Die einzige Zielgruppe, die noch untervertreten ist, sind die mittelalten Männer. Für sie will man zum Beispiel demnächst eine Harley Davidson aufstellen und – Aarhus lässt grüssen – Drohnen fliegen lassen.
Kuratiertes Wissen
Trotzdem stehen weiterhin die Bücher im Zentrum. Natürlich könne jeder allein zuhause sitzen und im Internet lesen, wie man zum Beispiel mit dem Tod eines nahen Familienmitglieds umgeht, so Matter.
Die Bibliothek hätte aber drei entscheidende Vorteile. Erstens fände man hier kuratiertes Wissen: Die Werke würden von Archivaren sorgfältig für die Nutzer ausgesucht. Zweitens könnten sich die Besucherinnen darauf verlassen, dass sie Qualität vorfinden, die neutral und frei von politischen oder wirtschaftlichen Interessen sei.
Und drittens könnten sich die Menschen hier eben vernetzen und austauschen. Bei gewissen Themen wie eben dem Umgang mit dem Tod sei dies ein hoch geschätztes Angebot.
Die Bibliotheken der Wissenschaft
Auch wissenschaftliche Bibliotheken an Hochschulen müssen sich Gedanken über ihre Zukunft machen. Am 7. Februar 2016 gab der Leiter der ETH-Bibliothek, Rafael Ball, der «NZZ am Sonntag» ein Interview, das hohe Wellen schlug.
Dort antwortete er auf die Frage, ob das Internet Bibliotheken überflüssig mache mit einem klaren «Ja»: Volksbibliotheken seien überbewertet. Das Konzept, Inhalte zu sammeln, funktioniere im Zeitalter des Internets nicht mehr.
Es war eine provokative These, die Ball mittlerweile auch nicht mehr vertritt. Klar ist aber, dass auch die wissenschaftlichen Bibliotheken auf den Digitalisierungsdruck reagieren müssen.
Bibliotheken gegen «Fake News»
Während die öffentlichen Bibliotheken ihre Zukunft also in der Begegnung von Menschen und dem «Miteinander lernen» suchen, konzentrieren sich die Wissenschaftsbibliotheken auf die Pflege und Bewahrung von Forschungswissen.
In Zeiten von ‹Fake News› braucht es unabhängige Instanzen. Da sind Bibliotheken wichtiger denn je.
Rafael Ball hebt hervor, wie wichtig wissenschaftliche Bibliotheken für ein wissenschaftliches Publikum sind: «Besonders in Zeiten von Wikipedia, Google und den sogenannten ‹Fake News› braucht es dringend unabhängige Instanzen, die Wissenschaft, Forschung und Lehre unterstützen. Da sind Bibliotheken heute wichtiger denn je.»
Ein global zugängliches Archiv
Die ETH Bibliothek baut ein äusserst umfangreiches digitales Archiv auf – elektronische Angebote, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch auf Dienstreisen in den USA oder Australien nutzen können. Nur so kann sie global wettbewerbsfähig bleiben gegenüber anderen renommieren Hochschulbibliotheken.
Zum Archiv gehören umfangreiche Nachlässe von Thomas Mann, Albert Einstein und Max Frisch sowie ein Fotoarchiv mit bereits drei Millionen Bildern. Zudem sind bereits 400 aktuelle Zeitschriftentitel öffentlich abrufbar.
«Die Öffentlichkeit finanziert unsere Angebote, also soll sie diese auch umfänglich nutzen können. Wir sind mittlerweile ein Analysezentrum mit Dienstleistungen für Forschende und öffentliche Nutzer», so Ball.
In dieses Konzept passt auch die Strategie der «Citizen Science»: auf der Website «Smapshot» können sich Nutzer aktiv einbringen. Die ETH fragt nach ihren Ortskenntnissen, um Luftbilder von unbekannten Aufnahmeorten zu lokalisieren.
Die Zukunft in der Vergangenheit
In der antiken Welt war die weltberühmte Bibliothek in Alexandria die bedeutendste Bibliothek. Sie war ein Hort des Wissens mit Millionen von Papyrus-Rollen.
Doch schon sie war viel mehr. Sie war eine Art Campus, wo sich Studierende und andere trafen, um sich auszutauschen. Um voneinander und miteinander zu lernen. In diesem Sinne liegt die Zukunft der Bibliotheken – sowohl öffentlicher als auch wissenschaftlicher – tief verwurzelt in der reichhaltigen Tradition von Bibliotheken.
Die Bibliothek von heute bleibt auch in der digitalen Gesellschaft einer der wichtigsten Orte. Denn kaum ein anderer Ort bietet so viel Raum für Begegnung, Austausch, Integration, Lernen, Erleben und nicht zuletzt: Lesen. Bibliotheken erwartet darum eine goldige Zukunft!