Stille.
Nur etwas lässt ihr keine Ruhe. «Auch ich bin angefixt», sagt Franziska Schläpfer, wie Big Zis mit bürgerlichem Namen heisst. Sie meint nicht die Pistazienkerne, die sie seit einer Dreiviertelstunde im Zweiminutentakt einwirft.
Schläpfer schnappt sich das Smartphone auf dem Holztisch, das schon wieder surrt. Kurznachrichten aus einer anderen Welt – Stichwort «Konzertanfrage», wahlweise «Probe». Die gute Nachricht: Es läuft bestens mit der neuen Band, und das soll bitte so bleiben. Auch wenn Big Zis dann mal weg ist bis Mitte Oktober. Meistens, wenigstens.
Die Vermessung der Bergwelt
Hoch über dem Tal, hart an der Baumgrenze – irgendwo bei Tiefencastel bei Chur bei Zürich befindet sich Schläpfers Zuhause auf Zeit.
«Du gehst beim Fluss links in den Wald hinein», hatte Schläpfer dem Besucher mit auf den Wanderweg gegeben. «Und wenn du die Stelle mit dem kleinen Holzsteg erreichst, verlässt du die ausgetretenen Pfade und kommst zur Hütte.»
Die Vermessung der Bergwelt – sie lebt von den Bildern. Die Anziehungskraft einer Alp lebt immer auch davon, dass man sie nicht findet. Das Abenteuer Alp beginnt ungefähr da, wo die weltberühmte Genauigkeit einer Schweizer Wanderkarte an ihre Grenzen stösst.
Links lang beim Bach? Rechts, sagt der Bauch.
Das «Saupuff» auf der Rinderalp
Wollsocken und Wanderschuhe, helles Shirt und dunkle Shorts, ein schwarzes Velokäppi und eine goldene Kuh im Ohr. Franziska Schläpfer sitzt auf einem Stuhl vor ihrer Hütte. Baujahr 1981, Hauptsache Holz, bisschen Beton.
Die alte Hütte wurde von einer Lawine ins Tal gerissen, sagt sie gelassen, blickt ins Tal und bleibt an dem «Saupuff» hängen, das einfach nicht kleiner werden will. Tässchen Tee?
Sonnenhüte und Regenhosen liegen herum, Turnschuhe und Gummistiefel stehen da, Holz, Drahtrollen. Ein eher ruhiger Tag steht vor der Hüttentür, die Schläpfer im Unterschied zu ihren Vorgängern («ein richtiges Hippie-Paar») nicht abschliesst. Alpträume? Bisher keine. Auch das darf so bleiben.
Die Freiheit, die sie meint
Heute ist «Hage» angesagt, wie fast immer die letzten Tage. Franziska Schläpfer wird Zaunpfähle in die Erde schlagen und dazwischen den Zaundraht spannen, der elektrisch geladen sein wird. Zwei Tage noch, dann kommen die Tiere aus dem Tal. Hundert Rinder. Eine Frau. Null Aufregung.
Es wird oft der grosse Begriff «Freiheit» fallen an diesem wunderbar wolkenlosen Bergsommertag Mitte Juni. Letzte Schneezungen an den steilen Hängen. Blühende Bergwiesen. Schmelzwassertrunken.
Freiheit? Auch auf der Alp hat sie ihre Grenzen. Noch ein Nüsschen, die nächste SMS. Für die Rinder wird die Freiheit am elektrisch geladenen Zaun enden. Für die Rapperin aus der Stadt – sie ist alles andere als ein kulturpessimistischer Technikmuffel – endet sie nicht mit der drahtlosen Verbundenheit zu ihrem normalen Berufsleben.
«Hey», lächelt Franziska Schläpfer, «ich mache nur meinen Job.» Musikerin bleibt sie auch in der Abgeschiedenheit auf der Alp.
Fast wie Fasten
Und doch: Auch für die Zürcher Rapperin liegen Schönheit und Charme einer Alp erst mal in der Reduktion auf das Wenige, in der Beschränkung auf das Wesentliche. Alp ist Einübung in Askese. Alp ist vielleicht viel Kuhmist, aber vor allem «no bullshit».
Es werde, wie beim Fasten, das sie regelmässig praktiziert und regelmässig kaum damit aufhören kann, es werde darum gehen, den abgespeckten Handy-Gebrauch nicht als Verzicht wahrzunehmen. «Das kann gelingen», sagt Schläpfer. «Aber es wird dauern.»
Die Handy-Rechnung ist einfach. Hängt Schläpfer tagsüber zu viel am Smartphone, muss sie es abends aufladen. Das Aufladen braucht Solarstrom. Den hat sie bei schlechtem Wetter nicht. «Hier oben zählt nur, dass der Zaun zwicken kann.»
Zahlen, bitte!
17'000 Menschen ziehen laut letzter Zählung der Fachstelle AlpFutur jeden Sommer auf eine Schweizer Alp. Sie arbeiten als Senninnen oder Hirten. Sie hüten die 400'000 Kühe, Rinder und Kälber, die 210'000 Schafe oder kleine Kinder. Oder sie «chrampfen» als Käserinnen und Käser.
Manche bleiben ein paar Tage oder Wochen. Viele verdingen sich für einen ganzen Alpsommer. Sie sind stadtmüde und auf der Suche nach den wichtigen Dingen im Leben. Sie sehnen sich nach Entschleunigung und Körperarbeit, nach Naturnähe und Luxusferne. Alp statt App.
Franziska Schläpfer, eine gelernte Zimmerin, die in ihren vielen früheren Berufsleben als Barfrau ihr Brot verdiente und in einem Zürcher Studiokino Tickets verkaufte, um sich das Philosophiestudium zu berappen, würde bei «Beruf» wohl «Heute: Hirtin» angeben. Rinderhirtin, um genau zu sein.
Weniger ist viel mehr
Vier Monate lang ist Schläpfer Herrin in dieser Hütte. Klein ist sie und funktional eingerichtet. Da ist der grosse Essraum mit der kleinen Kochnische, die schmale Schlafkoje liegt gleich nebenan. Auf dem Bett liegt ein Schlafsack, auf dem Boden Bücher und Zeitungen. Das Bad ist der Brunnen drüben beim Gemüsegärtchen.
Oben im Giebelzimmer werden die Freunde schlafen, die zu Besuch kommen. Oder der Künstler-Kollege, der die Alp hütet, wenn die Musikerin einen Gig hat oder zur Bandprobe nach Zürich düst. Und in den Sommerferien werden ihre Kids unter dem Hüttendach hausen. Fast ging’s vergessen: Mutter ist diese faszinierend freie Frau ja auch noch. Dreifache.
Rustikale Radikalkur
Ihr Mutter-Sein neu denken und anders leben: Das ist einer der Gründe, warum sich Franziska Schläpfer auf diese Alp verzogen hat. Vielleicht der Wichtigste?
Es geht da – so richtig mag sie diese zwar gesellschaftspolitisch relevanten, aber eben auch verdammt privaten Dinge nicht an die grosse Kuhglocke hängen – um überholte und unterreflektierte Rollenbilder.
Es geht um den Umstand, dass auch im 21. Jahrhundert noch immer fast alles an der Frau hängen bleibt. Es geht um den Versuch, mit einer Art rustikaler Radikalkur ein Stück jener künstlerischen und lebenskünstlerischen Freiheit zurückzuholen, die mit dem Grossprojekt «2 Musiker, 3 Kinder, kein regelmässiges Einkommen» auf der Strecke bleiben musste. Zwangsläufig.
Einfach gesagt: Jetzt soll der Vater seinen Mann stehen.
Die Anfänge der Alpliebe
Hoch hinauf wollte Franziska schon, als sie selbst noch ein kleines Kind war. Küchenpsychologin, die sie ist – auch einer der Berufe, die diese kompromisslose Frau mit grosser Leidenschaft ausübt –, führt sie ihre Liebe zum «Alpen» auf zwei Alpsommer zurück, die sie mit ihren Eltern («Hippies damals, die sich früh trennten») verbrachte, als sie eins und zwei war. Oder zwei und drei. Ziegen, zauberhaft.
Eigene prägende Erinnerungen hat Schläpfer an ausgedehnte Alpbesuche bei Freunden der Mutter während der Sommerferien in der Primaschule. Und vor allem an die Heulkrämpfe beim Heimfahren im Postauto. Sie wäre lieber oben geblieben.
«Besitz ist Diebstahl»
Es kam die Alp im Tessin. Franziska war 18. Sie hatte das Gymnasium geschmissen, war in Zürichs Hausbesetzer-Szene heimisch geworden und erwog ernsthaft, sich zur Bäuerin ausbilden zu lassen. Eigentlich wollte sie im Tessin nur bei Freunden aus der Szene vorbeischauen. Sie kam und blieb hängen – und hängte gleich noch einen Sommer an.
Das mit dem Häuser-Besetzen ist Geschichte. Längst lebt Franziska Schläpfer mit ihren drei Kindern in einer Mietwohnung mitten in Zürich. Noch immer hat sie dieses zwiespältige Verhältnis zum Haben und Haben-Wollen, das aus jenen Jahren in der legendären Wohlgroth stammt.
«Besitz ist Diebstahl», war eine der Parolen jener Jahre. Sie ist ihr im Grunde ein Grundsatz geblieben. «Wer meint, etwas besitzen zu wollen», sagt Schläpfer, «der hat etwas nicht kapiert.»
Schrebergarten hoch 100
In diesem Geiste betreibt sie auch diese Alp bei Tiefencastel bei Chur bei Zürich. Ein idealer Zustand, sagt sie. Die Alp gehört ihr nicht – und ein kleines bisschen eben doch, während der vier Monate, in denen sie hier den Laden schmeisst.
Das Hüttchen mit dem Riesengarten ist ein Besitz auf Zeit, in der alles möglich ist. Hat sie manchmal heimlich Schrebergärtner-Gefühle im XXL-Format? Da ist es wieder, das kehlig-kernige Gelächter, dem man jedes Bühnenjahr anzuhören meint.
Schläpfer kann sich an der Hütte zu schaffen machen, ohne den Bauern fragen zu müssen. Oder die Gemeinde, der die Hütte gehört. Oder wie war das schon wieder? Egal. Sie erhebt sich jetzt von ihrem schiefen Stuhl, greift nach einer Holzkiste («schön, eigentlich») und fragt sich, ob sie nicht die richtige Grösse für einen kleinen Hühnerstall hätte?
Wer ein Haus besitzt, sagt Schläpfer, ist für immer gebunden. Was heute ein Haus mit sieben Zimmern ist, wird morgen zur Grabkammer. «Ich könnte hier gehen, wenn ich wollte.» Tun wird sie es nicht. Sie hat gerade begonnen, Wurzeln zu schlagen. Sie wird wiederkommen. Und wieder.
Alpen von links
Die Alp, ein unerwarteter Gegenort der kapitalismuskritischen Subkultur: Das ist die Tradition, aus der Franziska Schläpfer schöpft.
Es war in den frühen 1970er-Jahren, als viele Junge die Schweizer Städte verliessen, um dem Fortschrittsfanatismus und Industrialisierungsirrsinn zu entfliehen und der Enge kleiner werdender Wohnungen, die nicht mehr zu bezahlen waren.
Auf dem Land war Platz. Viel Platz. Auf dem Land gab es Häuser. In den Bergen gab es Hütten. Dass man auf dem Land diese Aussteiger mit den langen Haaren und dem guten Draht zu Drogen mit halboffenen Armen empfing, weil man scheissfroh war um Arbeitskräfte – eine hübsche Pointe der Geschichte, schmunzelt Schläpfer.
«Die Einheimischen mussten mit den Freaks reden. Mehr kann man sich nicht wünschen.» Sie sei jetzt nicht so der «Mega-Hippie», hatte Schläpfer schon nach dem zweiten Schluck Tee verlauten lassen. Mit dem «Freak» kann sie leben. Gut und gern sogar.
Freiraum für Freigeister
Geht es Franziska Schläpfer, diesem so kompromisslosen Musiker-Menschen, auch darum, die Alp, die mit ihren Schweizer Fahnen, den Kälbern und Kühen, dem Juchzen und Jodeln für eine weltferne und weltfremde Postkarten-Schweiz steht, aus einer von den Rechten besetzten Ecke zu holen?
Zwei Pistazien jetzt, ein entschiedenes Kopfschütteln. Allein deshalb nicht, weil sie es immer anders erlebt habe. Je höher man steige, sagt Schläpfer, desto weniger urchig und bünzlig, desto weniger spiessig und chauvinistisch im Sinne von nationalistisch erlebe sie ihr Heimatland. «Ausser im Appenzell und im Berner Oberland.»
Gerade die Alp scheint ein Freiraum für Freigeister. Man braucht sich, aber nicht zu nah und lässt sich leben. Dass sich hin und wieder, hier oder dort fremde Lebenswelten berühren und vielleicht sogar befruchten – wer könnte etwas dagegen haben?
Huch, Hudigäggeler!
Musikalisch hat die Rapperin nicht angedockt. Sie hat es auch nicht vor. Franziska Schläpfer mag Naturjodel, sie hat aber null Bock auf Hudigäggeler und Handorgel, auf diese völlig verstaubte Volksmusik von vorgestern. Sie hat allerdings nichts dagegen, dass dem einen oder anderen Aussteiger passiert, dass er auf Dinge einsteigt, auf die er vorher herabschaute.
Arbeiten aber – das will sie auf der Alp, nicht nur mit den Händen. «Vielleicht nicht dieses, aber nächstes Jahr.» Dann wird sie die Hütte so eingerichtet haben, dass sie ihren Vorstellungen entspricht. «Hier braucht’s noch ein Gestell», sagt sie und steht auf.
Auch so ein schöner Schläpfer-Satz für das Poesiealbum: «Ich liebe schmutzige Hände.» Und ein Schläpfer-Paradox: Sie macht sich schon lange für das bedingungslose Grundeinkommen stark, findet aber, jeder Mensch müsse arbeiten. «Wobei Arbeiten auch Schlafen sein kann.»
Raum für Reime
In Schläpfers Sonderfall heisst Arbeiten während der nächsten Monate, «zum Beispiel jetzt gleich unbedingt da hochgehen und ganz dringend einen Pfahl einschlagen müssen und das alles mit Blick auf dieses berückende Panorama, das sich mit jedem Höhenmeter verändert. Das ist etwas völlig anderes, als in der Wohnung sauberzumachen.» Die Alp und ihre Hütte – für Schläpfer sind das ziemlich genau Gegenteile einer Hausfrauenfalle.
Irgendwann will sie auch Zeit haben, um Texte zu schreiben. Sie will Raum finden für einen Reim (oder zwei oder drei). Schläpfer hat sich absichtsvoll nicht für eine Alp mit Kühen, Ziegen oder Schafen entschieden.
Rinder geben keine Milch und machen weniger Arbeit. Sie müssen einmal am Tag gezählt werden. Dafür muss man nicht um vier Uhr aufstehen.
Das Lesen der Anderen
Die Schale mit den Pistazien ist nicht leer, der Tee einen Schluck kälter geworden, als er vor einer Stunde schon war. Bald kommt der Bauer, ihr Chef, aus dem Tal herauf. Er will sich anschauen, ob Schläpfer «guet ghaget» habe. Ein netter Kerl, sagt sie, fast gesprächig für einen Bergler, lesen könne sie ihn noch nicht.
Bleibt die grosse Frage, woher die Anziehungskraft der Berge komme. Was zieht uns hier hoch und holt uns zugleich runter auf den Boden? Diese Frage kann man nicht beantworten, sagt Schläpfer schnell und lässt das Handy liegen. Hat es nicht gesurrt?