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Die Strasse zieht sich kurvenreich durch eine typisch englische Landschaft: Um die sanften Hügel erblickt man überall Schafweiden. Dazwischen ab und zu ein Obstgarten, durch Hecken abgetrennt. Und immer wieder tauchen romantische Cottages oder prächtige Herrenhäuser auf.
Dann wird plötzlich die Sicht frei auf einen Weinberg – ein Anblick, den man in England nicht unbedingt erwartet. Ich bin im Süden Englands, in der Grafschaft East Sussex. Sie grenzt an Kent, den «Garten Englands».
Weine aus dem hohen Norden
Lange galt: Wein wächst nur bis zum 50. Breitengrad, dem sogenannten Weinäquator. Der zieht sich genau durch die Mainzer Innenstadt, dann durch Nordfrankreich und durch den westlichen Ärmelkanal.
Der Weinäquator ist längst nicht mehr die Grenze des Weinbaus. Während es in südlichen Weingebieten wegen ausgedehnter Trockenheit und Hitze immer schwieriger wird, Wein anzubauen, gibt es plötzlich Weine aus Dänemark, Schweden oder England.
Die eigene Kraft der Rebe
Nicht nur geographisch verschieben sich in der Weinwelt die Grenzen: Viele Winzer stellen um auf ökologischere Bewirtschaftung, Bioweine sind im Trend.
Wein ist nicht reine Natur, sondern ein über 3000 Jahre altes Kulturprodukt. Vom Pflanzen der Rebstöcke bis zum fertigen Wein in der Flasche passiert viel, manchmal zu viel. Die Monokultur ist anfällig auf Schädlinge, Krankheiten und auf Wetterkapriolen. Wer nicht mit viel chemischen Mitteln eingreifen will, stellt um auf Bio, setzt auf Stärkung der Reben.
Bio im Aufwind
Der Konsum von herkömmlichem Wein stagniert – nur beim Biowein ist Wachstum nachweisbar, bei der Produktion und beim Konsum.
Biologischer Weinbau macht zwar mehr Arbeit, stärkt dafür die einzelnen Pflanzen und den Boden. Auch in den neuen, nördlichen Weingebieten ist ein Trend zum ökologischen Weinbau festzustellen.
Demeter-Weine aus Südengland
Zum Beispiel in der Sedlescombe Organic Winery in East Sussex. Seit der Gründung vor genau vierzig Jahren kommen hier nur Bioweine in die Flaschen. Seit 2010 ist das Weingut sogar Demeter-zertifiziert, also biodynamisch.
Ein grosses Schild in Form eines Rotweinglases am Strassenrand heisst Besucherinnen und Besucher willkommen. Inmitten der Weinberge stehen ein paar kleine Gebäude: ein Besucherzentrum mit rundem Wellblechdach, ein Schuppen mit einer alten Verkorkungsmaschine und ein paar Holzfässern, dahinter ein kleines Holzhaus.
Sophie und Kieran Balmer nehmen mich in Empfang und führen mich ins Büro. Alles ist etwas improvisiert, es wird umgebaut und erweitert.
Vom Lehrerpult auf den Weinberg
Sophie und Kieran Balmer haben das Weingut erst diesen Sommer von Roy Cook gekauft. Der Biowein-Pionier hat das Weingut selbst aufgebaut, nun will er sich zur Ruhe setzen. Seinen Nachfolgern steht er noch als Berater zur Seite.
Die Balmers kommen nicht aus dem Weinbusiness, waren beide Primarlehrer. Warum haben sie das biodynamische Weingut übernommen? «Wir kommen hier aus der Gegend, wollten aufs Land zurück. Unsere Motivation ist es, die schöne Landschaft zu bewahren, vor der Zerstörung durch Bebauung, aber auch durch Pestizide.» So haben sie ohne viel Vorwissen dieses Weingut gekauft.
Französisches Know-how
Ihnen zur Seite steht Paul Defais. Der junge französische Winzer aus dem Loire-Tal ist im letzten Jahr zum Weingut gestossen. Während die Balmers sich um den Umbau des Betriebes kümmern, um das Besucherzentrum und den Vertrieb, macht Paul seit letztem Jahr die Weine.
Sophie und Kieran Balmer helfen mit, auch sie arbeiten im Weinberg und im Keller. «Seit wir hier sind, haben wir viele Paare Gummistiefel gekauft!», lacht Sophie.
Deutsche Rebstöcke in Sussex
Paul Defais und Kieran Balmer führen mich durch die Reben, die um die kleine Häusergruppe herum angepflanzt sind. Der Boden ist schlammig, Paul ist etwas traurig, dass er mir die Weinberge nur winterlich karg zeigen kann.
In langen Reihen stehen die Reben, ihre gekringelten Triebe ragen wie freche Haarlocken in alle Richtungen. Ganz verschiedene Sorten stehen da, am Reihenanfang sind sie angeschrieben: «Reichensteiner», «Müller-Thurgau», «Johanniter» sind einige davon. «Roy Cook hat seinerzeit auf deutsche Sorten gesetzt, sie eignen sich gut in unserem Klima.»
Schwierige Arbeit ohne Chemie
Zwischen den Reben wächst allerlei. Gras, aber auch willkommenes Unkraut: «Einiges lassen wir stehen oder säen es sogar, zum Beispiel Luzerne. Das düngt auf natürliche Art den Boden», erzählt Paul Defais.
Es sei nicht ganz einfach, in so feuchtem Klima biodynamisch zu arbeiten, auf chemische Pestizide und Fungizide zu verzichten, sagt der studierte Önologe und Winzer.
Es brauche grosses Verständnis für den Ort, für den Boden, für das Klima im Allgemeinen und das Mikroklima im Weinberg. Für das «Terroir» eben.
Von Frankreich nach England
Defais kommt aus der biodynamischen Weinbautradition: «Ich habe noch nie anders gearbeitet.» Das Loire-Tal sei Pionier für biodynamischen Weinbau: «Mittlerweile gibt es dort praktisch keine Winzer mehr, die konventionell arbeiten.»
Trotzdem wollte er weg aus Frankreich: «Dort ist alles reglementiert. Man darf nur diese oder jene Rebsorte in dieser oder jener Appellation, also in einem bestimmten, festgelegten und benannten Weingebiet anbauen. Und jeder Winzer schaut kritisch, manchmal missgünstig, was der Nachbar macht.»
So sei er in England gelandet, über eine Online-Plattform, in der sich bio- und biodynamische Winzer vernetzen.
Weniger Vorschriften, mehr Experimente
«Hier in England gibt es noch keine solchen strengen Reglemente, weil es auch noch keine klassischen Appellationen gibt. Ich kann hier nach Belieben experimentieren, jedes Jahr Neues ausprobieren. Was wächst wo am besten, entwickelt sich gut bei der Gärung, welche Rebsorten kann ich mit welchen zu einer guten Cuvée verarbeiten? Was schmeckt gut, kommt gut an?»
Kieran Balmer erzählt: «Wir wollen grösser werden, die Produktion in den nächsten Jahren verdoppeln.» Und so haben die Balmers neues Land gekauft und Reben gepflanzt – an den Hängen hinter dem nahegelegenen Bilderbuchschloss Bodiam Castle zum Beispiel stehen seit diesem Sommer Sedlescombe-Reben. In drei bis vier Jahren sind sie reif für ihren ersten Jahrgang.
Die englische Wein-Tradition
Dass Wein angebaut wird in England ist gar nicht so exotisch, wie wir hier denken: Rund 700 Weingüter gibt es in Grossbritannien, Tendenz steigend. Die meisten sind im Süden. Aber es gibt auch Weingüter bis hinauf nach York.
Anders als in Frankreich oder Deutschland gibt es in England keine ununterbrochene Weingeschichte. Das liegt nicht nur am Klima. Ja, es regnet in England oft, aber da ist durchaus genügend Sonne in der Vegetationszeit.
Durch die nördliche Lage bekommen die Reben an einem klaren Tag sogar mehr Sonnenstunden als weiter im Süden. Die Böden sind gut für Weine, und im Winter ist es oft wärmer als bei uns in der Schweiz.
Henry VIII. und die Reblaus
Warum also hat der Weinbau keine Tradition? Schuld ist unter anderem Heinrich VIII. Der liess im 16. Jahrhundert alle Klöster im Land auflösen und zerstören, die Mönche wurden verjagt oder umgebracht. Mit ihnen verschwand das Wissen um den Weinanbau, den die Römer einst auf die Insel gebracht hatten.
In der Folge blieb es bei Versuchen im 18. und 19. Jahrhundert, bis in der «Phylloxera-Krise» die Reblaus den englischen Weinbau wieder ganz zunichtemachte.
In den 1970er-Jahren begannen dann einige Enthusiasten wieder, englischen Wein anzubauen und zu keltern. Was zuerst als Idee einiger Spinner abgetan wurde, ist heute durchaus ernst zu nehmen.
Wenige Bioweingüter
Von den rund 700 britischen Weingütern produzieren sehr wenige biologisch. Genaue Zahlen gibt es keine, weil viele der englischen Weingüter noch gar nicht oder nur im kleinen Rahmen kommerziell arbeiten.
Kieran Balmer schätzt auf wenige Dutzend. Die Sedlescombe Winery ist das einzige nach Demeter-Vorgaben zertifizierte Weingut Englands, das kommerziell arbeitet. Einige Weingüter sind aber bereits in der Umstellung begriffen.
Grosse Lust am Experimentieren
Sophie und Kieran Balmer, den neuen Besitzern von Sedlescombe, und ihrem Winzer Paul Defais ist die Leidenschaft anzumerken: Sie stehen noch ganz am Anfang, haben Lust auf Experimente.
Der neue Jahrgang ist soeben in die Stahlfässer gekommen. Von denen stehen momentan nur zwei im kleinen Weinkeller hinter dem Besucherzentrum. Momentan sei der Keller ausgelagert, erzählt Kieran Balmer. Er wird umgebaut – vergrössert und modernisiert.
«Bio heisst nicht altmodisch und selbst gestrickt», erzählt Kieran lachend, «da braucht man moderne Anlagen, um genauer arbeiten zu können. Je weniger Chemie man braucht, desto sauberer muss die Arbeit im Keller sein.»
Die neuen Weine gibt es erst nächstes Jahr
Es ist kalt im offenen Keller. Das Wetter draussen ist typisch englisch: grau und feucht. So ziehen wir uns zurück ins Besucherzentrum.
Im gemütlichen Raum unter dem Wellblechdach stehen an den Backsteinwänden Regale mit den Weinen, die Sedlescombe verkauft. Wir degustieren den letzten Jahrgang von Roy Cook. «Die eigenen sind noch nicht in der Flasche. Sie müssen nächstes Jahr wiederkommen, um sie zu probieren», sagt Kieran.
Fremde Aromen
Die Weine sind ansprechend, teilweise etwas fremd in der Aromatik, teilweise noch etwas sehr säurebetont. Das sei das örtliche Terroir, sagt Kieran. Der Schaumwein ist exzellent, frisch, trocken und trotzdem fruchtig.
«Wer kauft Ihre Weine?», frage ich Sophie. «Wir haben lokale Kundschaft, privat, aber auch kleine Geschäfte. Und wir gehen auf Märkte. Die lokalen Weine sind sehr beliebt, wir verkaufen gut.»
Lokaler Wein ist beliebt
Das entspricht dem Zeitgeist: In den Pubs, die ich auf meiner Reise besuche, werden fast überall lokale Biere und lokaler Cider angeboten. Und englischer Wein.
Erzähle ich von meiner Reportage, bekomme ich sofort weitere Tipps für Weingüter in der Gegend. Auf vielen Speisekarten wird betont, dass alle Produkte aus lokaler Landwirtschaft seien. Das Interesse an lokaler, nachhaltiger Produktion ist gross, das Angebot steigt.
Zusammenarbeit mit der Konkurrenz
Fürchtet die Sedlescombe Organic Winery die wachsende Konkurrenz? «Überhaupt nicht», sagt Paul Defais. «Ich finde es wunderbar, wie hier alle neidlos nebeneinander existieren. Wir haben in England eine Online-Community der Winzer. Wenn etwa ein neuer Schädling auftritt, wird nicht nur davor gewarnt, alle teilen sogleich Tipps zur Bekämpfung. Man hilft sich gegenseitig, mit Rebgut, mit Arbeit, mit Erfahrungsberichten.»
Experimentierfreude, Lust am Neuen und eine gesunde Respektlosigkeit vor überholten Traditionen – das zeichnet die Winzer und Weinbauern in England aus.
Die Leidenschaft und Freude ist ansteckend, und mit ein paar Flaschen englischen Weins in der Tasche fahre ich wieder vom Weingut, vorbei an Tausenden von Schafen. Immer mal wieder öffnet sich zwischen den Hecken der Blick auf einen kleinen Weinberg.