Bärtige Männer, um ein Schwert versammelt, strecken ihre rechte Hand zum Himmel empor, drei Finger zum Schwur gespreizt: die Eid- und Leidgenossen aus Uri, Schwyz und Unterwalden.
Auf dem Rütli sollen sie sich 1291 gegen fremde Herrschaften verschworen haben, so der Mythos. Lebten fortan alle Eidgenossen in Freiheit zusammen?
«Schön wär’s», winkt Journalist und Autor Andreas Z’Graggen ab. Er hat sich für sein Buch «Adel in der Schweiz» mit dem Mythos befasst. «Das stimmt alles nicht», sagt er und zitiert aus dem Bundesbrief von 1291. «Darin steht: ‹Jeder soll gemäss seinem Stand weiterhin seinem Herren dienen.› Das wurde während Jahrhunderten vom Volk erwartet.»
Böse Habsburger?
Denn eine adlige Elite herrschte über die Alte Eidgenossenschaft – bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Das sei in der darauffolgenden Zeit verdrängt worden, sagt Andreas Z’Graggen. «Der Adel hat das idyllische Bild der Schweiz gestört. In der Schule wurde uns beigebracht, dass hier nur freie, unabhängige Bauern und Handwerker lebten». Vom Adel war keine Rede.
Zu den mächtigsten Adelsfamilien des 13. Jahrhunderts gehörten aber tatsächlich die Habsburger – so wie es auch der Mythos beschreibt. So sadistisch wie ihr Landvogt Gessler im schillernden «Wilhelm Tell» seien die Herren aber nicht gewesen: «Die Eidgenossen haben sie zu bösen Habsburgern hochstilisiert, die das Volk tyrannisiert haben. Damit rechtfertigten sie ihre eigenen Machtgelüste.»
Der neue Adel steigt auf
Machtgelüste, die sich in Schlachten entluden: 1386 schlugen die Eidgenossen die Habsburger bei Sempach. Die adlige Familie, die auf dem Weg zur europäischen Grossmacht war, verlor zunehmend ihr Interesse an der Eidgenossenschaft, schreibt Z’Graggen. Das rief neue Regenten auf den Plan.
In den Städten übernahmen Bürger und Kaufleute die Macht. Zu ihnen gehörte etwa die Familie Pfyffer in Luzern. Sie stieg Anfang des 16. Jahrhunderts rasant auf.
Die neuen Herrscher besetzten politische Ämter, verschafften sich Adelstitel und Wappen – wie zum Beispiel die Familie von Wattenwyl. Diese gehörte bald zu den vornehmsten Berner Familien. Die Aristokratie, der neue Adel war geboren.
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Bild 1 von 6. Ludwig Pfyffer von Altishofen wurde wegen seines grossen Einflusses von Zeitgenossen als «Schweizerkönig» bezeichnet. Bis heute ist das Geschlecht Pfyffer in angesehenen Stellungen und Berufen anzutreffen. Bildquelle: Wikimedia.
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Bild 2 von 6. Friedrich Moritz von Wattenwyl war als Berichterstatter für den Schweizer Generalstab an den deutschen Fronten im Ersten Weltkrieg zugegen. Bildquelle: Wikimedia .
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Bild 3 von 6. Ludwig von Diesbach stammte aus der Patrizierfamilie Diesbach. Er hinterliess autobiographische Aufzeichnungen, die heute zu den wichtigsten erhaltenen Ego-Dokumenten des Mittelalters zählen. Den Ritterschlag erhielt er 1496. Bildquelle: Wikimedia .
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Bild 4 von 6. Rudolf von Erlach war ein Berner Ritter. Sein Denkmal steht heute an der Grabenpromenade der Stadt Bern. Erkennbar ist er am Wappen der Familie von Erlach. 1339 soll er als Anführer der Eidgenossen in der Schlacht bei Laupen gekämpft haben. Bildquelle: Wikimedia .
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Bild 5 von 6. Die Historikerin Barbara Margaretha von Salis-Marschlins entstammt einem alten Schweizer Adelsgeschlecht. Die Frauenrechtlerin setzte sich besonders für die rechtliche Gleichstellung der Frau ein. Zu ihren Brieffreunden zählten Friedrich Nietzsche sowie dessen Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Sie starb 1929 in Basel. Bildquelle: Wikimedia .
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Bild 6 von 6. Albrecht von Bonstetten, Dekan und Frühhumanist, wurde 1474 zum Priester geweiht. Auf dem Holzschnitt von 1493 kniet vor einer Marienfigur. Erkennbar ist er am Wappen des Adelsgeschlechts von Bonstetten. Bildquelle: Wikimedia .
Wenig Rechte, viele Vorschriften
Diese Elite schuf sich nun Untertanengebiete wie die Waadt oder das Tessin. «Das sogenannte Volk hatte nur wenig Rechte», schreibt Z’Graggen. «Es gab unheimlich viele Gesetze. Viel mehr als heute».
Verglichen mit andern Ländern sei das Regime allerdings relativ mild gewesen. «Die Aristokraten waren nicht dumm. Sie wussten, dass es sonst zu Konflikten und Aufständen kommt.»
Keine brennenden Burgen
Als 1798 die Franzosen auf Napoleons Befehl einmarschierten, stürzte die Alte Eidgenossenschaft «wie ein Kartenhaus zusammen». Die neuen Besatzer riefen die Helvetische Republik aus und installierten eine Verfassung – mit Grundrechten fürs Volk.
Die adligen Familien verloren zwar ihre Privilegien. Aber: «Es ging ihnen nicht wirklich an den Kragen», schreibt Z’Graggen. «Das Volk schlug seine Herrscher nicht tot. Sie durften ihren Besitz behalten.» Der Sturm auf die Schlösser und Burgen blieb aus.
In die adlige Ferne schweifen
Doch die Machtverhältnisse veränderten sich zunehmend. 1848 wurde die moderne Schweiz gegründet, mit dem Volk als Souverän. Die Bundesverfassung von damals hielt fest, dass es hierzulande keine Untertanen geben darf.
So verlor der Adel im Laufe der Zeit seine Macht und geriet in Vergessenheit. «Vielleicht interessieren uns gerade deshalb Geschichten über Adlige wie Prinz Harry umso mehr», sinniert Z’Graggen. «Weil wir das Gefühl haben, wir hätten keine adlige Vergangenheit in der Schweiz.»
Vergessen, aber nicht verschwunden
Dabei gibt es noch heute Nachfahren aus aristokratischen Familien: Sie sind gemäss Z’Graggen als Ingenieure, Mediziner oder Anwälte tätig. Sie sitzen im Nationalrat wie Thomas de Courten, dessen Familie in der alten Eidgenossenschaft im Wallis grossen Einfluss hatte.
Oder sie pflegen als Landwirt das verbliebene Schlossgut wie Sigmund von Wattenwyl. Auch wenn sich die Zeiten verändert haben – die Familie von Wattenwyl besass einst über 60 Schlösser – ganz verschwunden ist der Adel nicht.