Seit Kriegsbeginn vergeht kein Tag ohne Aufruf für oder gegen einen Kultur-Boykott. «Wollen Sie die russische Aggression stoppen? Stoppen Sie deren Kultur bei der Beeinflussung Ihres Geistes.» Das schrieb die ukrainische Filmemacherin Darya Bassel.
Es ist nicht der einzige Appell, der zu einem generellen Bann russischer Kultur aufruft. Auch der PEN-Schriftsteller-Verband der Ukraine forderte kurz nach Kriegsbeginn den weltweiten Boykott russischer Bücher und Verlage.
Mittlerweile relativierte der PEN-Präsident Andrej Kurkow diese Forderung und plädierte für eine «Weisse Liste» mit Namen jener Kulturschaffenden aus Russland, die sich klar gegen den Krieg aussprechen. Auch ein offener Brief wehrt sich gegen einen pauschalen Boykott russischer Kulturschaffender.
Druck zur öffentlichen Stellungnahme
Braucht es nun Sanktionen gegen alle, die keine Position zu Putins imperialer Politik beziehen wollen? Oder ist es wohlfeil, vom sicheren Westen aus, von russischen Kulturschaffenden eine Stellungnahme zu verlangen, obwohl sie dadurch ihre berufliche Existenz und bis zu 15 Jahre Gefängnis riskieren?
Wenn Du schweigst, unterstützt Du die Angriffe auf ukrainische Städte
In den Feuilletons und auf den Leserbriefseiten sorgt die Frage für Kontroversen. Viele fänden es undenkbar, in diesen Tagen ein Konzert der Starsopranistin Anna Netrebko zu geniessen, die sich zaghaft vom Krieg, aber nicht von Putin distanziert hat.
Andere berufen sich auf die Meinungsfreiheit und finden es falsch, wenn Kultur-Institutionen die Zusammenarbeit künden, weil Kunstschaffende eine Stellungnahme scheuen. Schliesslich gehe die politische Haltung den Arbeitgeber nichts an.
Heisst Schweigen Zustimmung?
Für den russischen Schriftsteller Michail Schischkin hingegen ist klar: Wer diesen Krieg nicht öffentlich verurteilt, soll nicht im Westen arbeiten dürfen. «Im Krieg wird die Welt schwarz-weiss, ohne Schattierungen. Wenn Du schweigst, unterstützt Du die Angriffe auf ukrainische Städte», sagt Schischkin, der seit langem in der Schweiz lebt.
Ich halte es nicht für angemessen, einen Generalverdacht über alles Russische zu verhängen.
Obwohl er die Entwicklung der russischen Gesellschaft seit Jahren in luziden Essays analysiert und Putins Regime scharf kritisiert, bittet er, sichtlich aufgewühlt, um Vergebung für die Verbrechen, die jetzt im Namen Russlands in der Ukraine verübt werden.
Schischkin hofft mit Blick auf die Zukunft, dass der Dialog der Kulturen nicht gänzlich abreisst: «Nach dem Krieg wird so viel Schmerz, so viel Hass in den menschlichen Seelen bleiben – da wird nur die Kultur helfen können.»
Kollektivstrafen könnten Putins Narrativ stärken
Die Zürcher Autorin und Kulturvermittlerin Ilma Rakusa stimmt grundsätzlich zu, dass Schweigen nach Mitläufertum aussieht. Sie hat aber auch Verständnis für russische Künstlerinnen und Intellektuelle, die jetzt aus schierer Angst ruhig sind und abwarten. «Bei Einzelpersonen muss man genau hinschauen. Ich halte es nicht für angemessen, einen Generalverdacht über alles Russische zu verhängen.»
Im Gegenteil könnte eine Kollektivstrafe bewirken, dass Putins Narrativ vom russophoben Westen bestärkt würde. Klar ist für sie, dass es zurzeit keine Zusammenarbeit mit staatlich gelenkten und finanzierten Kulturinstitutionen aus Russland geben soll.
Während Bomben auf die Ukraine fallen und täglich Menschen sterben, liege der Fokus nun ohnehin nicht auf dem Umgang mit russischen Kulturschaffenden, sagt Ilma Rakusa. «Wenn das Schlimmste – der Krieg – überstanden ist, muss die Kultur wieder aktiv werden. Sie ist eine soft power, sie hat ihre eigenen Möglichkeiten, Menschen zu bewegen, zu sensibilisieren, zu informieren, zu verändern.»