Noch wenige Tage, dann sind die Zehnerjahre Geschichte. Wie haben die Jahre zwischen 2010 und 2019 die Gesellschaft geprägt? Und: Wie geht es nun weiter?
Stephan Sigrist von der Gegenwarts-Denkfabrik W.I.R.E. schaut zurück – und wagt den Blick ins nächste Jahrzehnt.
SRF: Was werden wir in zehn Jahren den Zehnerjahren zuschreiben?
Stephan Sigrist: Mit etwas Distanz betrachtet, ist wahnsinnig viel passiert. Die Zehnerjahre markieren, in einem grösseren Bild, das Ende der klaren Strukturen und den Übergang in eine dynamischere Welt, eine Welt der Echtzeit.
Das heisst?
Die Jahrzehnte zuvor waren geprägt durch hohe Kontinuität und stabile Strukturen. Wir hatten ziemlich klare Vorstellungen, etwa über die Rollenverteilung in einer Familie. Die politische Landschaft war durch bekannte Positionen geprägt und die Finanzmärkte folgten etablierten Modellen. Dann kam zum Ende der Nullerjahre die Finanzkrise.
Der Übergang in eine plötzlich viel unklarere Welt hat die Zehnerjahre geprägt.
Diese führte zu einer grundlegenden Unsicherheit bezüglich dem wirtschaftlichen Wachstum. Die sozialen Medien haben parallel dazu zu einer Fragmentierung der Öffentlichkeit beigetragen, in Folge derer sich die traditionellen gesellschaftlichen Hierarchien auflösen.
Die viel grössere Konsequenz ist, dass wir plötzlich gemerkt haben, dass viele Strukturen nicht mehr greifen – und wir viele Systemzusammenhänge eigentlich gar nicht verstanden haben.
Dieser Übergang in eine plötzlich viel unklarere Welt hat die Zehnerjahre in vielerlei Hinsicht sehr stark geprägt.
Also sind die Zehnerjahre das Zeitalter der grossen Verunsicherung?
Ja, genau. Die Realität war zwar zu früheren Zeiten ähnlich komplex. Aber wir hatten zumindest die Vorstellung, nach welchen Mechanismen die Wirtschaft sich verhält – und klare Leitlinien: was richtig, was falsch, was gesund und nicht gesund ist. Diese Gewissheiten haben sich alle aufgelöst.
Zentraler Treiber dieser Veränderung ist die Digitalisierung, geprägt durch den Siegeszug der Smartphones. Man vergisst ja immer wieder, wie spät die erst eingeführt wurden.
2007 wurde das erste iPhone verkauft. Nun nennt man die Zehnerjahre und Smartphones oft in einem Atemzug. Wie kommt's?
Digitale Strukturen haben in dieser Dekade massgeblich in unserem Alltag Einzug gehalten – durch die sozialen Netzwerke, durch die Streamingangebote, aber auch durch die neuen Möglichkeiten der Alltagsgestaltung, die etwa Airbnb oder Uber brachten.
Diese Verlagerung ins Digitale war nicht, wie man lange gedacht hatte, ein Hype, der irgendwann wieder vorbei ist. Sie ist die neue Normalität.
Enorme Erwartungen wurden dadurch geschürt – aber nicht immer in die Realität umgesetzt. Momentan sind wir eher an einem Punkt, an dem man merkt: Die vielversprochene Blockchain-Revolution hat nicht stattgefunden. Die Chatbots sind lustig, aber wenige Leute haben im Alltag wirklich nützliche Erfahrungen mit ihnen gemacht.
Also wurde zu viel versprochen?
Ich bin sehr kritisch, was den ganzen Hype um Roboter und künstliche Intelligenz anbelangt – ich glaube, da ist vieles warme Luft. Aber dennoch stehen wir nun am Übergang in eine Gesellschaft, die auf Daten und Algorithmen basiert.
Nach der technologischen Revolution kommt das Zeitalter der gesellschaftlichen Innovation.
Die nächste Dekade wird sehr viel stärker durch die Frage geprägt sein, wie wir die Gesellschaft an diese Technologien anpassen. Pointiert gesagt: Nach dem Jahrzehnt der technologischen Revolution kommt das Zeitalter der gesellschaftlichen Innovation.
Die Liste von Fragestellungen ist enorm: Wie funktioniert eine Volkswirtschaft, wenn Menschen mehrere Jobs haben? Welche Daten haben gesellschaftlichen Mehrwert? Darf die Krankenkasse wissen, wenn mein Gentest eine Veranlagung für eine genetische Krankheit anzeigt?
Sollte uns das optimistisch stimmen – oder eher pessimistisch?
Einerseits ist es eine Aufstiegs-, eine Optimismus-, eine Euphoriegeschichte. Wir haben den Aufstieg von Uber gesehen, von Airbnb, Facebook und Google. Man plant die Reise zum Mars. Man spricht davon, dass selbstfahrende Autos kommen.
Aber gleichzeitig spüren grosse Teile der Bevölkerung weltweit nichts davon und leiden zunehmend unter der Globalisierung. Wir haben die Gelbwesten-Bewegungen in Frankreich gesehen, viele enttäuschte Wähler in den USA, Menschen, die Verlustängste aufbauen.
Das sind parallele Entwicklungen. Die Zehnerjahre sind ein Zeitalter, wo man genau diese Diskrepanz später einmal stärker hervorheben wird.
Über die Zehnerjahre wird oft behauptet, man könne sie nicht so richtig fassen …
Warum kann man sie nicht fassen?
Die Frage wollte ich eigentlich Ihnen stellen.
Ja, gut – es ist das Jahrzehnt der neuen Vielfalt. Wir haben es mit einer fluiden, nicht mehr wirklich greifbaren Umgebung zu tun, die sich laufend verändert.
Man sieht es bis in die höchste Politik: Man kann an einem Tag das eine sagen, am nächsten das andere. Vor 20 Jahren wäre das zu einem Genickbrecher geworden, heute ist es Alltag.
Die Reaktion ist, dass viele Menschen ihr Vertrauen stärker in Richtung von Freunden oder soziale Medien richten. Man vertraut Menschen aus dem direkten Umfeld mehr als Experten.
Trauen wir am Ende nur noch uns selbst?
Die Ausrichtung auf das eigene Selbst und die eigene Gesundheit ist ein Makrotrend, der die Zehnerjahre geprägt hat. Viele Spannungsfelder hatten mit dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben zu tun. Also mit dem Anspruch, quasi eine Welt zu haben, die auf die eigenen Bedürfnisse, Werthaltungen zugeschnitten ist.
Wären Sie vor zehn Jahren zum Arzt gegangen und hätten gesagt: «Schauen Sie mal, ich habe eine andere Ansicht, was die Medizin anbelangt, als Sie» – dann wären Sie ausgelacht worden. Heute ist die Chance gross, dass man sagt: «Ja gut, dann schauen wir, wie es für Sie passt.»
Die Beschleunigung würde ich manchmal gerne wieder loswerden.
Das Spannungsfeld tut sich zwischen Wünschbarkeit und Realität der Gesellschaft auf. Kurz gesagt: «Reality hits us» – die Realität holt uns ein. Im nächsten Jahrzehnt werden wir die Aufgabe haben, die vielen Wahlmöglichkeiten auf konkrete Entscheidungsgrundlagen zurückzubinden.
Bei neuen Innovationen wird es also nicht primär darum gehen, noch mehr Möglichkeiten zu eröffnen, sondern Menschen Entscheidungen zu ermöglichen – und dabei auch das Vertrauen zu stärken, dass sich die eigene Zukunft gestalten lässt.
Wenn Sie schon von Wahlmöglichkeiten sprechen: Welches Zehnerjahre-Ding würde Sie gerne hinter sich lassen?
Die Beschleunigung. Teilweise empfinde ich sie zwar als inspirierend. Trotzdem würde ich diese Errungenschaft, die uns quasi in die Zyklen der Maschinen reinbringt, manchmal gerne wieder loswerden.
Das Gespräch führte Mirja Gabathuler.