Die Primarschule ist der Ort, wo auf dem Pausenplatz Gummitwist und Fangis gespielt wird, wo man sich mit dem Blühverhalten von Löwenzahn beschäftigt, lesen, schreiben und rechnen lernt. Ein bisschen Französisch oder Englisch – je nach Kanton – und dann kommen die Dinosaurier dran.
Die Mehrheit der Kinder in der Schweiz gibt an, gerne zur Schule zu gehen. Gleichzeitig klagen sie vermehrt über Leistungsdruck und Stress.
Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden 27 Prozent der elfjährigen Kinder in der Schweiz unter Schlafproblemen, 15 Prozent klagen über ständige Niedergeschlagenheit. Zwölf Prozent leiden regelmässig unter Kopfschmerzen.
Stress im Kinderzimmer
Die Direktorin der Stiftung Pro Juventute, Katja Wiesendanger, findet deutliche Worte: «Stresssymptome, die wir bisher von Managern kannten, sind im Kinderzimmer angekommen.» Als häufigster Grund für Stress wird die Schule genannt. Aber ist die Schule wirklich stressiger geworden?
Christine Staehelin ist seit über 30 Jahren Primarlehrerin in Basel-Stadt, mit grosser Leidenschaft und – wie sie sagt – aus Überzeugung für die öffentliche Volksschule.
«Ich höre immer wieder, der Leistungsdruck in der Primarschule habe zugenommen», sagt sie. «Man muss sich allerdings genau fragen, woher dieser Druck denn kommt.»
Eltern würden heute der Bildung einen viel grösseren Stellenwert zumessen. Den Druck, den sie so auf ihre Kinder ausüben, würden diese verinnerlichen. «Es herrscht eine gewisse Abstiegsangst unter den Eltern. Diese geben sie an ihre Kinder weiter.»
Zwischen Selbstbestimmung und Überforderung
Gleichzeitig müssten Kinder je länger je mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen, so Staehelin. Gerade die neuen, als fortschrittlich geltenden Lernformen, das so genannte selbstorganisierte Lernen, sei für gewisse Kinder eine Überforderung.
«Kinder müssen heute vieles selber machen», erklärt Staehelin. «Es wird von ihnen erwartet, dass sie ihren Lernprozess selber steuern und planen. Damit sind sie ständig auf sich selber zurückgeworfen. Das kann Stress auslösen.»
Mehr Freiheit und Mitbestimmung
Selbstorganisiertes Lernen basiert auf der Idee, dass Lernprozesse dann erfolgreich sind, wenn Kinder besonders viel mitbestimmen können. Das heisst, sie setzen sich selber Lernziele, die sie erreichen wollen. Sie motivieren sich selber, suchen selber nach Lernstrategien und übernehmen damit Verantwortung für ihr eigenes Lernen.
Selbstregulierte Lernformen betonen die aktive Seite des Lernens und der Lernenden und nehmen diese viel mehr in die Pflicht. Gerade für starke Schülerinnen und Schüler bieten solche Lernformen viel Freiheit und Mitbestimmung. Lehrperson können individueller auf Schülerinnen und Schüler eingehen.
Erwachsene stehlen sich aus Verantwortung
Trotzdem: Diese Verschiebung von Verantwortung hin zum Kind findet Christine Staehelin heikel: «Die Erwachsenen verabschieden sich aus der Verantwortung. Gerade innerhalb eines pädagogischen Kontextes geht das nicht.»
«Bildung und Erziehung ist etwas, was wir Erwachsenen den Kindern zumuten», fährt Staehelin fort. «Wir können nicht erwarten, dass die Kinder das selbst tun. Das ist eine Überforderung, besonders für die Kinder, die in der Schule Mühe haben.»
«Falsche Vorstellung von Autonomie»
Auch der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl pflichtet Staehelin bei. Zwar klinge selbstorganisiertes Lernen in der Theorie toll und nach Mitbestimmung.
In der Realität aber seien solche Lernformen schlicht nicht kindgerecht: «Selbstorganisiertes Lernen setzt eine Vorstellung von Autonomie voraus, die es bei Kindern gar noch nicht gibt. Die Kinder werden alleine gelassen. Das löst Stress und Überforderung aus.»
Kinder sind frustriert
Aus Untersuchungen wisse man: Kinder lernen dann, wenn sie spüren, dass die Lehrperson von einem Thema begeistert ist. «Eine Lehrperson, die mit Leidenschaft ein Thema vermittelt und die Kinder an der Hand nimmt, kann sie begeistern.»
Müsse das Kind jedoch ständig selber herausfinden, was es nun lernen wolle und wofür es sich zu interessieren habe, löse das häufig Frustration aus.
Engmaschige Beurteilungen
Primarschülerinnen und -schüler sollen also zunehmend selbstorganisiert lernen. Ihnen wird vermittelt, sie steuerten ihren Lernprozess selbst. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass gleichzeitig eine so engmaschige Beurteilung der Kinder stattfindet wie nie zuvor.
Seit einigen Jahren müssen alle Kindergarten- und Primarschullehrpersonen der Nordwestschweiz einen standardisierten Lernbericht für jedes Kind ausfüllen: 72 Kreuze auf einer Skala von 1 bis 4. Die Lernberichte bewerten umfassend alle Leistungen der Kinder.
Protest von Lehrpersonen
Unlängst machte der Kanton Basel-Stadt Schlagzeilen. Zwölf Lehrpersonen aus einer Primarschule wagten den Aufstand und weigerten sich, diese Lernberichte auszufüllen. Die Lernberichte würden zu unnötigem Leistungsdruck führen und letztlich nichts bringen, so die Begründung.
Diese Lernberichte sind bei der Lehrerschaft schon lange umstritten. Eine Umfrage der kantonalen Bildungskonferenz Basel-Stadt ergab: Über zwei Drittel der Lehrerinnen und Lehrer sind nicht damit einverstanden, dass bereits Erstklässler und Erstklässlerinnen so beurteilt würden.
Letztlich wurden die Lehrpersonen aber vom Erziehungsdepartement dazu gezwungen, die Lernberichte trotzdem auszufüllen. Diese seien gesetzlich vorgeschrieben.
Kinder als Arbeitnehmende
Die Diskussion um Leistungsdruck in den Primarschulen war damit aber definitiv lanciert. Auch Christine Staehelin hat sich mit dem Protest gegen die Lernberichte solidarisiert.
Besonders stossend an den Lernberichten findet sie, dass es auch um die Beurteilung so genannter überfachlicher Kompetenzen gehe. Die Kinder würden dabei wie Arbeitnehmende behandelt.
«Das ist doch absurd!»
«Da steht zum Beispiel: ‹Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig›. Das ist doch absurd!», sagt Staehelin. «Was heisst denn Selbstständigkeit innerhalb eines pädagogischen Kontextes überhaupt? Kinder sind keine Arbeitnehmenden.»
Auch Allan Guggenbühl findet die zunehmenden Rückmeldungen anhand der standardisierten Raster sinnlos: «Wichtig ist, dass man mit einem Kind im Gespräch bleibt. Das hat einen hohen Wert. Aber mit Kreuzchen in einem Raster erreicht man ein Kind nicht. Ich würde das ganz streichen.»
Der diskrete Charme des Personalwesens
Zu den Beurteilungen der Lehrpersonen kommen die Selbsteinschätzungen der Primarschüler und Schülerinnen dazu. Mikael Krogerus ist Redaktor bei «Das Magazin» und Vater zweier Kinder.
Auch er stellt fest, dass Kinder je länger desto häufiger dazu aufgefordert würden, sich selber einzuschätzen, sich selber zu beurteilen und konkrete Lernziele für die Zukunft zu formulieren.
Eigentlich alles Dinge, die man bisher aus dem Personalwesen kannte. Nun aber versprühen Begriffe wie «Zielvereinbarungen», «Standortbestimmungen» und «Portfolio» den diskreten Charme des Personalwesens und damit dessen Botschaften auch in den Primarschulen: «Geübt wird der Blick von aussen auf sich selber», so Krogerus. «Letztlich geht es um die Selbstoptimierung.»
Bin ich gut genug?
Mikael Krogerus hat den Eindruck, dass in der Schule die klassisch-philosophische Frage aller Heranwachsenden, nämlich «Wer bin ich?», abgelöst wurde durch die Frage: «Bin ich gut genug?»
«Das ist eine traurige Frage, denn es schwingt immer mit, dass man noch nicht gut genug ist und stetig an sich arbeiten muss», meint Krogerus. «Dabei geht die Freude verloren, etwas zu tun, unabhängig davon, ob man darin gut ist. Es ist letztlich eine Wettbewerbslogik, in der gut sein bedeutet: besser sein als andere.»
Man könnte also folgende These formulieren: Wer ständig dazu aufgefordert wird, über die eigenen Lernfortschritte nachzudenken und Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, erlebt von klein auf, dass alles stetig gemessen und bewertet wird. Kinder sind so dem Leistungsdruck unmittelbar ausgesetzt, bereits in der Primarschule.