Mittwochnachmittag, der erste warme Frühlingstag in Zürich Wiedikon. Trotz des sonnigen Wetters sind Sofia, Samuel und Iwan nicht auf dem Spielplatz.
Wie jeden Mittwoch sind sie wenige Schritte vom Spielplatz entfernt in einem blauen Wohnhaus. Hier, im zweiten Stock, befindet sich die Sprachschule Yang. Drei kleine Unterrichtszimmer zwängen sich in eine Wohnung.
Die achtjährige Sofia besucht zusammen mit den drei Jahre älteren Jungen Samuel und Iwan den Chinesischkurs bei Lehrerin Ruiying Xu. Heute geht es um Fahrzeuge.
Auf dem Tisch liegen Bilder von Autos, Bussen und Fahrrädern. Jedes der drei Kinder hält einen bunten Hammer aus Plüsch in den Händen. «Huŏ chē» sagt die Lehrerin – und die Kinder schlagen nach kurzem Nachdenken laut rufend auf das Bild eines Zuges.
Der Klang der Sprache
«Die Kinder lernen die Sprache hier sehr spielerisch», sagt die Schulleiterin Debby Germann-Yang. Die Sprachwissenschaftlerin und Lehrerin hat in Zürich 2010 ihre eigene Sprachschule gegründet. Hier bietet sie Kurse für Erwachsene und Kinder an. Gruppenkurse gibt es für Kinder ab vier Jahren, Einzelunterricht bereits für Dreijährige.
Wegen den vielen verschiedenen Lauten sei beim Chinesischlernen das Hören sehr wichtig, sagt Germann-Yang: «Wenn man jung ist, ist das viel einfacher als für Erwachsene.» Zuallererst sollen die Schüler verstehen, wie die chinesische Sprache klingt.
Die Nachfrage nach solchen Kinderkursen sei gross, sagt Germann-Yang. In den meisten Fällen beginnen die Kinder den Unterricht auf Wunsch der Eltern.
Lernen für die Zukunft
Ein häufiger Grund, warum die Eltern ihre Kinder zum Chinesischunterricht schicken, ist die Zukunftsperspektive: Die Eltern sind überzeugt, dass es den Kindern später berufliche Vorteile bringt, wenn sie schon heute mit der Sprache vertraut gemacht werden.
So war es auch bei Sofia, erzählt ihre Mutter. «Als sie vier Jahre alt war, haben wir uns für den Chinesischunterricht entschieden.» Nach jedem Semester hätten die Eltern Sofia gefragt, ob sie weitermachen möchte. Und jedes Mal habe sie Ja gesagt.
Denn der Unterricht macht Spass. Das sagen alle drei Kinder in der Klasse. Im Klassenzimmer herrscht eine ausgelassene Stimmung, die Stunde ist abwechslungsreich und spielerisch.
Man fährt nicht mit jedem Fahrzeug gleich
Statt Plüschhämmer stehen jetzt kleine Kühe aus Holz auf dem Tisch. Wenn die Kinder zu einem Fahrzeug das richtige Verb sagen, dürfen sie mit ihrer Kuh ein Feld vorrücken.
Im Chinesischen wird je nach Fahrzeug ein anderes Verb benutzt. Je nachdem, ob man ein Gefährt selbst lenkt, ob man bloss mitfährt oder ob man rittlings darauf sitzt wie auf einem Pferd, sagt man «kāi», «zuò» oder «qí».
Das ist ziemlich kompliziert. Lehrerin Xu, die im Unterricht meist Chinesisch spricht, liefert hier eine längere Erklärung auf Deutsch. Etwa 60 Prozent des Unterrichts sei auf Chinesisch, sagt Schulleiterin Germann-Yang.
Aber wenn es kompliziert wird, wechselt die Lehrerin ins Deutsche. Das kommt immer wieder vor – schliesslich ist Chinesisch alles andere als einfach.
Langsam – dafür locker
Wie viel von dieser schwierigen Sprache können die Kinder überhaupt lernen mit einer einzigen Stunde Unterricht pro Woche? «Das Tempo ist natürlich langsam», sagt der Vater von Iwan, als er den Jungen nach dem Unterricht in der Sprachschule abholt.
Aber der Unterricht solle ja auch lockerer sein als in der normalen Schule. Immerhin könne Iwan im Chinarestaurant auf Chinesisch bestellen – und verblüffe damit nicht nur die Eltern, sondern auch die Kellner.
Iwans Vater ist regelmässig beruflich in Asien unterwegs. Dass Vater und Sohn mal gemeinsam nach China reisen, ist fest geplant. Auch da dürften die Sprachfähigkeiten des 11-Jährigen nützlich sein.
Chinesisch gibt es nur im Schulzimmer
Die kleineren Kinder lernen einzelne Wörter und kurze Sätze, sagt Germann-Yang. Die Grösseren könnten nach einem Jahr schon Einiges verstehen, das Sprechen brauche aber länger.
Schwierig sei, dass die Kinder in den meisten Fällen ausserhalb des Unterrichts keine Gelegenheit hätten, Chinesisch zu sprechen. Alle drei Kinder im Kurs wachsen zwar mehrsprachig auf, sie alle beherrschen bereits vier Sprachen. Aber Chinesisch sprechende Menschen haben sie in ihrem Umfeld nicht.
Volle Terminkalender
Weil die Kinder nur im Unterricht Chinesisch sprechen, würde es die Schulleiterin Germann-Yang eigentlich gut finden, wenn sie mehr als nur eine Stunde Unterricht pro Woche hätten.
Aber das gehe meistens nicht – auch weil die Kinder oft noch viele andere ausserschulische Aktivitäten hätten. Sofia zum Beispiel geht nach der Stunde bei Ruiying Xu weiter zum Bollywood-Tanzkurs. Und sie ist im Turnverein, nimmt Schwimmunterricht.
Auch Samuel habe einen vollen Terminkalender, sagt sein Grossvater, der ihn heute zum Unterricht gebracht hat: «Und in der Schule sind die Erwartungen und der Leistungsdruck heute enorm.»
Für den regulären Unterricht besucht Samuel eine internationale Schule. Der gewöhnliche Schulalltag dürfe nicht unter den weiteren Aktivitäten wie dem Chinesischunterricht leiden, sagt sein Grossvater.
Eine andere Kultur kennenlernen
Hausaufgaben gibt es deshalb nur wenige. Die langsamen Fortschritte nehmen die meisten Eltern in Kauf, die Kinder sollen Spass haben am Unterricht. Alle drei Eltern betonen, dass es ihnen mit dem Unterricht auch darum gehe, dass die Kinder eine andere Kultur kennenlernen.
So werden hier kaum Vokabeln gebüffelt. Stattdessen wird gebastelt, gesungen und gemalt. Jetzt zeichnen Iwan, Samuel und Sofia mit Farbstiften Fahrzeuge auf Karteikarten.
Eine Sprache der Zukunft
Draussen strahlt weiterhin die Sonne. Aber auch im Klassenzimmer herrscht gute Laune, die drei Schüler gehen engagiert zu Werk. Wird ihnen das Chinesisch dereinst auf dem Stellenmarkt tatsächlich Vorteile bringen? Bis sich diese Frage beantworten lässt, dauert es noch eine Weile.
Man bekommt im Klassenzimmer aber zumindest schon jetzt den Eindruck, dass Sofia, Samuel und Iwan wohl auch im kommenden Semester am Mittwochnachmittag wieder im blauen Haus anzutreffen sein werden.