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Was soll man sagen – Macht, Moral und Cancel Culture
Aus Kontext vom 03.05.2021. Bild: Unsplash/Michael Dziedzic
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Debatte um Cancel Culture Ist Cancel Culture demokratisch oder totalitär?

Seit dem Fall Muschg, seinem Vergleich von Cancel Culture mit Auschwitz, gehen die Wogen rund um den Kampfbegriff wieder hoch. Ist das eine Gefahr für die Meinungsfreiheit oder eine längst fällige Debatte?

Drei Fragen an zwei Frauen, die einiges gemeinsam haben und die Debatte doch anders sehen: Anna Rosenwasser, LGBTQ-Aktivistin und Kolumnistin aus Zürich, findet, nur schon der Begriff Cancel Culture sei Ausdruck der herrschenden Verhältnisse. Judith Sevinç Basad, Journalistin und Autorin aus Berlin, dagegen sieht in der aktuellen Entwicklung totalitäre Tendenzen. 

Anna Rosenwasser

LGBTQ-Aktivistin und Kolumnistin

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Die LGBTQ-Aktivistin, Kolumnistin und Influencerin bezeichnet sich selbst als «doppelt so gay wie sie aussieht, und halb so jüdisch, wie sie klingt». War Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz. Rosenwasser hat Politologie und Geschichte der Neuzeit studiert. Sie ist aufgewachsen in Schaffhausen und lebt heute in Zürich. Ihre Mutter ist Schweizerin, ihr Vater Israeli.

Judith Sevinç Basad

Journalistin und Autorin

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Autorin und Kolumnistin. Studierte Philosophin, Germanistin und Politologin. Hat für die liberale Seyran-Ates-Moschee in Berlin gearbeitet. Hat für WELT, NZZ, FAZ und Cicero geschrieben und eben ein Buch veröffentlicht: «Schäm Dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist». Aufgewachsen in Bayern als Tochter eines Türken und einer Deutschen. Lebt in Berlin.

SRF: Ist Cancel Culture ein echtes Problem oder ein Schein-Problem? 

Judith Sevinç Basad: Wenn Leute an Auftritten gehindert werden, oder Aktivisten aus der Anti-Rassismus oder LGBTQ-Szene derart Druck machen, dass Texte offline genommen werden und die Autoren sich entschuldigen müssen, dann gefährdet das die Meinungsfreiheit.

Anna Rosenwasser: Von Cancel Culture reden immer Leute, die jahrzehntelang unwidersprochen alles Mögliche sagen konnten und jetzt Angst haben, ihre Deutungshoheit zu verlieren. Es geht nicht darum, diese Leute zum Schweigen zu bringen. Es geht um längst fällige Debatten.

Dass wir öffentlich darüber reden, was geht und was eben nicht: Das ist doch hochdemokratisch.
Autor: Anna Rosenwasser LGBTQ-Aktivistin und Kolumnistin

Basad: Aktivisten behaupten, Cancel Culture sei die Erfindung eines rechts-konservativen Mobs, Abwehrkampf des alten weissen Mannes. Das ist zu simpel. Als mein Buch herauskam, versuchten Aktivisten es auf Amazon herunter zu ranken: durch Kommentare, ich sei rechtsextrem oder transfeindlich. Notabene, ohne dass sie das Buch gelesen hätten. Wenn das nicht Cancel Culture ist, dann weiss ich halt auch nicht. 

Es läuft immer ähnlich: Jemand sagt oder schreibt etwas, das wird als anstössig empfunden. Die Kritik kocht hoch, erst auf Social Media, dann in den angestammten Medien. Wer profitiert von dieser Dynamik?

Rosenwasser: Im Fall Muschg hat der Schriftsteller seinen Auschwitz-Vergleich nie zurückgenommen. Daher denke ich, das war eine bewusste Provokation. Die Dynamik, die danach entstand, fand ich eigentlich gut: Dass wir öffentlich darüber reden, was geht und was eben nicht. Das ist doch hochdemokratisch. Eine Stimme in der Öffentlichkeit zu haben ist ein Privileg. Jemand wie Adolf Muschg hat das seit Jahrzehnten. Durch die sozialen Medien können nun auch Leute teilhaben, die bisher nicht gehört wurden.  

Nicht alle Aktivisten übersteuern. Aber ein Teil ist laut und aggressiv. Die müssen da runterkommen.
Autor: Judith Sevinç Basad Journalistin und Autorin

Basad: In Zeiten von Social Media sind alle auf Clicks aus. Und je skandalöser die Aussage, umso grösser die Aufmerksamkeit. Alle versuchen damit zu spielen: der Mob, die Medien, die Aktivisten. Auch negative Publicity ist Publicity. Ich hoffe, dass sich dieses Muster irgendwann tot läuft. Diese Art der Kommunikation auf diesem Niveau ist doch unterirdisch. 

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Aus dem Archiv: Gespräch mit Anna Rosenwasser
aus Focus vom 08.02.2021. Bild: Keystone
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Was sollte sich ändern, damit die Debatte konstruktiver wird?

Basad: Nicht alle Aktivisten übersteuern. Aber ein Teil ist laut und aggressiv. Die müssen da runterkommen. Und wir sollten wieder mehr persönlich miteinander diskutieren, weniger auf Social Media. Wenn man eine Person vis-à-vis hat, verhält man sich viel vernünftiger, trotz aller Differenzen. 

Rosenwasser: Was wir erleben, ist Widerstand gegen Machtverhältnisse, die jahrzehntelang galten. Wenn wir heute öffentlich darüber diskutieren, was wir akzeptieren und was nicht, dann bringt das die Gesellschaft voran. Aktivismus kann im Ton variieren, mir ist auch nicht immer wohl dabei. Aber wer lange nicht mitreden durfte, ist die dauernde Duldsamkeit vielleicht auch mal leid. Gesellschaftlicher Wandel passiert nicht dadurch, dass ein paar Leute ganz höflich fragen, ob es allenfalls – sofern es keine Umstände macht – ein bisschen mehr Gerechtigkeit geben könnte.

Das Gespräch führte Susanne Schmugge.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 3.05.2021, 17:58 ; 

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