Was macht das Leben wirklich lebenswert? Ist es die Achtsamkeit, also ein Leben im Hier und Jetzt? Oder die Einsicht, dass sich diese Frage erst rückblickend am Ende unseres Lebens wirklich beantworten lässt?
Der 86-jährige Adolf Muschg, einer der profiliertesten Schriftsteller der Schweiz, hat Antworten gefunden – im Zen-Buddhismus und in der Auseinandersetzung mit der heutigen «Cancel Culture».
SRF: Herr Muschg, hatten Sie ein gutes Leben?
Adolf Muschg: Ich glaube, das gute Leben besteht darin, dass das Interesse an einem selbst nicht aufhört. Warum habe ich mich damals so verhalten? Warum habe ich mir das entgehen lassen? Im Alter werden diese Fragen interessanter.
Ich beginne eigentlich erst jetzt, mich richtig für das zu interessieren, was in mir und mit mir passiert ist. Das ist nicht furchtbar viel, weltgeschichtlich gesehen. Aber für mich persönlich, lebensgeschichtlich: alles.
Ist das Leben eine Kunst?
Friedrich Schiller meinte, sie sei die grösste aller Künste. Das Entscheidende an der Kunst aber ist die Einsicht in ihre Begrenztheit. Grenze ist Form. Es gibt keinen grenzenlosen Rembrandt. Jedes Bild hat einen Rahmen. Erst darin sehen wir Nuancen, die wir so noch nie gesehen haben.
Grenzenlosigkeit ist keine Lebensform des Menschen.
Heisst das, Lebenskunst ist Einsicht in die eigene Begrenztheit?
Ja, Lebenskunst zeigt sich als Kunst des Sterbens. Oder weniger dramatisch gesagt: Sie zeigt sich in der Kunst des Lassens, des Unterlassen-Dürfens. Ich muss nicht jede Hetze mitmachen. Es gibt einen Genuss des Weniger. Grenzenlosigkeit ist keine Lebensform des Menschen.
Der Philosoph Theodor W. Adorno meinte: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen». Hatte er recht?
Es gibt im so genannten falschen Leben viele Spuren, viele Glanzpunkte des richtigen Lebens: Herzlichkeit, Gastlichkeit, Interesse für den Anderen. Das ist auch in einer Tyrannei möglich. Es gibt also richtiges Leben im falschen.
Darauf beruht gerade der Begriff des Falschen. Adorno war ja Dialektiker. Es ist doch spannend, dass wir Menschen monströs gegensätzliche Wesen sind. Dass wir das Gegenteil dessen tun, was wir behaupten: Das ist normal!
Wie lange haben Sie gebraucht, bis Sie das eingesehen haben?
Lange. Natürlich bin ich auch stolz auf diese Einsicht. Ich bin immer noch kindlich darin, dass ich Funde zeigen möchte.
Sie haben sich intensiv mit Japan und dem Zen-Buddhismus auseinandergesetzt. Kommt dieser Erkenntnis-Fund aus dem Osten?
Japan gehört zu den Dingen, die ich liebe, aber durch die Brille des Fremden. Der Traum, dass man in der Gegenwart ganz bei sich selbst sein kann, im Hier und Jetzt – diesen Traum habe ich eine Weile lang im Zen-Kloster geträumt. Dabei bin ich aber vielen Ironien begegnet.
Der Spass des Lebens besteht in den eigenen Widersprüchen.
Zum Beispiel?
Im Zen-Kloster herrscht eine radikale Strenge. Als ich im Kloster aber krank wurde, da ist einer dieser strengen Mönche ins Städtchen gelaufen und hat ein Stück Torte für mich eingekauft. Ein kindliches Geschenk. Diese Art von wunderbar inkonsequenter Weisheit habe ich dort kennen und lieben gelernt.
Fehlt uns diese inkonsequente Weisheit heute?
Ich denke, ja. Nehmen Sie die «Cancel Culture», die wir heute haben. Dass man abgeschrieben wird, wenn man bestimmte Zeichen von sich gibt. Das sehen wir bei feministischen Diskursen ebenso wie bei anti-rassistischen.
Ein falsches Wort und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz. Entsetzlich an dieser Praxis ist nicht nur das Inhumane, sondern die Interesselosigkeit an den eigenen Widersprüchen. Darin besteht doch der ganze Spass des Lebens! Dass Dinge zusammengehen, von denen mir in der Sonntagsschule beigebracht wurde: Das eine ist von Gott, das andere vom Teufel.
Das Gespräch führte Yves Bossart.