Auf Twitter wird wieder einmal über sogenannte «Cancel Culture» gestritten. Das überrascht wenig. Immerhin ist der Begriff an sich schon umstritten. Wer ihn verwendet, prangert damit eine vermeintliche Empörungs-Kultur an.
Die führe dazu, dass Personen aufgrund von Äusserungen und Handlungen, die andere als diskriminierend einstufen, von Positionen oder Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Druck gemacht werde meist von einem wütenden Mob auf Social Media.
Ein falsches Wort und du hast den Stempel.
Überraschend ist aber, dass im Zentrum der Debatte Adolf Muschg steht. Der Schriftsteller und ehemalige Literaturprofessor ist eigentlich für sein literarisches Schaffen bekannt, nicht als Stimme gegen politische Korrektheit.
Auslöser war ein höchst fragwürdiger Vergleich, den Muschg letzten Sonntag bei Sternstunde Philosophie gezogen hat:
«Nehmen Sie die «Cancel Culture», die wir heute haben. Dass man abgeschrieben wird, wenn man bestimmte Zeichen von sich gibt. Das sehen wir bei feministischen Diskursen ebenso wie bei anti-rassistischen. Ein falsches Wort und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz.»
Empörung auf Twitter
In Auschwitz hatten Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten über eine Million Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, ermordet. Auf Twitter empören sich nun viele über den Vergleich mit dem Konzentrationslager. Auch das SRF und Moderator Yves Bossart werden kritisiert.
Moderator Yves Bossart reagiert per Twitter auf die Vorwürfe:
Wenig von der Empörungswelle auf Social Media hält Literatur- und Kulturwissenschaftler Andreas Kilcher. Für ihn ist aber klar, dass ein Auschwitz-Vergleich nie gut rauskommen kann: «Es stellt sich dabei nicht nur die Frage, was, sondern auch, wie etwas durch diesen Vergleich gesagt wird, und damit auch, ob es angemessen sein kann, mithilfe von Auschwitz symbolisch, rhetorisch etwas anderes sagen zu wollen.»
Kilcher ist nicht nur Experte für jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, sondern auch Literatur-Professor an der ETH Zürich und somit Nachfolger von Muschg. Dieser riskiere mit dem provokanten Vergleich nun genau, was er eigentlich anprangern wollte: «für ein falsches Wort gecancelt zu werden.»
«Ich nehme nichts zurück»
Wie kam Muschg also dazu, dieses «falsche Wort» zu gebrauchen? Gegenüber SRF gibt er zu, dass er das «Unwort» Auschwitz besser nicht gebraucht hätte. «Wer das Gespräch als Ganzes nicht sehen konnte oder wollte, pickt sich wenigstens eine Rosine als «Aufreger» heraus und vergiftet sie zulasten des Sprechers.»
Wer das Gespräch als Ganzes nicht sehen konnte oder wollte, pickt sich wenigstens eine Rosine als »Aufreger« heraus.
Von einem Ausrutscher kann aber nicht die Rede sein. Und zurückziehen will Muschg seine Aussage auch nicht. Denn die Cancel Culture spalte die Gesellschaft. Und von da an sei es «nur noch ein Schritt zur «Volksgemeinschaft» um jeden Preis.» Sein Fazit bleibt deshalb: «Ich nehme nichts zurück.»
Betroffene sind enttäuscht
Beim Schweizerischen Israelitischer Gemeindebund (SIG) ist man schockiert, dass Muschg weiterhin auf seiner Aussage beharrt. Solche «haltlosen Vergleiche mit der Judenverfolgung, dem Holocaust oder dem nationalsozialistischen Schreckensregime sind nicht nur unangebracht, sondern geschmacklos».
Man sei enttäuscht, «dass Herr Muschg in dieser Hinsicht seiner Rolle als intellektuelle Stimme in keinster Weise nachkommt.»