Beinahe eine Million Juden wurden in Auschwitz ermordet, darunter fast die ganze Familie meiner Grossmutter. Sie wurden in Auschwitz vergast. Einzig Mala Pfeffer, meine Grossmutter, durfte weiterleben.
Warum jemand den Holocaust überlebt hat oder nicht, ist eigentlich schnell erklärt: Es war reine Glückssache, ein unmenschliches russisches Roulette. Über Leben und Tod entschieden im Ghetto und in den Konzentrations- und Vernichtungslagern also meist nur die Willkür, der pure Zufall. Es gab für die Häftlinge kein richtiges Verhalten, welches das Überleben garantierte.
Das grösste Glück, das meine Grossmutter je hatte, war, dass sie meinen Grossvater im Ghetto Litzmannstadt in Lodz kennengelernt hat. Dazu kamen ein paar Charaktereigenschaften, die Mala zugutekamen, wenn es um das Überleben ging.
Eine Frau mit Eigenschaften
Bereits im Ghetto in Lodz beweist sie ihre Unerschrockenheit und ihre Opferbereitschaft. Sie ist 20 Jahre alt, als sie und ihre Familie im Ghetto eingeschlossen werden. Während ihre Eltern überfordert sind von den schnell aufeinanderfolgenden Schicksalsschlägen, passt sich meine Grossmutter Mala dem Ghetto-Leben schnell an. Sie sorgt dafür, dass ihre betagten Eltern nicht für Lebensmittel anstehen müssen. Sie fälscht Karteikarten der Ghetto-Verwaltung, damit ihr Neffe und ihre Eltern nicht für die Vernichtungslager selektioniert werden.
Auch in den schlimmsten Situationen behält sie einen kühlen Kopf. Als sie eines Tages nach Hause kommt, hat gerade eine Selektion für das Konzentrationslager stattgefunden. Auf einem Lastwagen erblickt sie ihren Vater. Und wer einmal mit dem Lastwagen fortgebracht wird, der wird nie mehr gesehen. «Ich ging zu einem der jüdischen Polizisten und bettelte ihn an, meinen Vater herunterzulassen. Und er liess meinen Vater mitten auf der Strasse aussteigen», erzählt sie viele Jahrzehnte später.
Es war kein Wohlwollen, das den jüdischen Kapo an diesem Tag dazu bewegte, meinem Urgrossvater das Leben zu retten. Meine Grossmutter verstand sich auf das Spiel von Gefallen und Gegengefallen. Der Kapo wollte bezahlt werden für seinen gnädigen Akt: Meine Grossmutter musste dafür sorgen, dass er eine grosszügigere Fleischration erhielt.
Ein Mann fürs Leben
Ihren zukünftigen Ehemann lernt meine Grossmutter während ihrer Zeit im Ghetto in Lodz kennen: einen Ingenieur namens Szymon Pfeffer. Sie heiraten im Februar 1944 zivil.
Mein Grossvater ist der technische Leiter der Metallgruppe II im Ghetto. Die Metallwerkstätten leisten Zwangsarbeit für die Nationalsozialisten. Hans Biebow, der Leiter des Ghettos, organisiert diese Zwangsarbeit und profitiert davon. Als klar wird, dass das Ghetto wegen den sich annähernden russischen Truppen geschlossen werden muss, will er seine gut ausgebildeten jüdischen Arbeiter nicht verlieren. Er will sie in einer Munitionsfabrik in Dresden einsetzen. Sie sollen den Deutschen bei der Aufrüstung helfen.
Er lässt eine Liste erstellen: die Biebow-Liste. 500 Juden haben Platz darauf. Mein Grossvater weigert sich, die Auswahl der zu rettenden Juden vorzunehmen – er wollte nicht zwischen Leben und Tod entscheiden müssen. Aber er schafft es, seine Frau und seine unmittelbare Familie auf die Liste zu bringen. Die Familie meiner Grossmutter schafft es nicht auf die Liste.
Meine Grossmutter verliert fast ihre ganze Familie auf einen Schlag.
Die Biebow-Gruppe verlässt das Ghetto mit dem letzten Transport nach Auschwitz. Mit im Viehwaggon sind Mala und ihre Familie. Mein Urgrossvater gibt meinen Grosseltern den religiösen Segen für ihre Ehe. Man wisse nicht, was mit ihnen passieren werde.
In Auschwitz angekommen werden die älteren Leute, kranke Menschen und Kinder vom Rest der Gruppe getrennt. Die Schwestern meiner Grossmutter wollen bei ihren Kindern bleiben. Und meine Grossmutter Mala will mit ihnen mitgehen. Doch ihr Mann Szymon, mein Grossvater, hält sie zurück. «Du gehörst jetzt zu mir», sagt er ihr.
«Also ging ich nicht mit», sagt sie in ihrem Videotestimonial 1993 unter Tränen. Ihre Stimme stockt, sie kann für einen Moment nicht weitersprechen. 50 Jahre sind seit diesem Tag in Auschwitz vergangen. Das Trauma ist immer noch nicht verblasst. Meine Grossmutter verliert an diesem Punkt in ihrer Geschichte fast ihre ganze Familie auf einen Schlag.
Auf Umwegen nach Dresden
Die Biebow-Gruppe hat in Auschwitz einen Sonderstatus. Die Juden auf der Liste müssen nicht durch die Selektion, sie werden nicht tätowiert. Ganze Familien, manchmal inklusive Kinder, bleiben so zusammen. Das sei «bemerkenswert», sagt mir die Holocaust-Forscherin Sybille Steinbacher, als ich sie auf das Schicksal meiner Grossmutter anspreche. Die mörderischen Regeln der Selektion wurden bei dieser Gruppe einfach ignoriert.
Von Auschwitz wird die Gruppe zuerst ins Konzentrationslager Stutthof transportiert, wo sie zwei Monate bleiben. Danach geht es nach Dresden. Warum die Gruppe eine solch Reiseroute nehmen musste, konnte ich bisher nicht rekonstruieren.
In Stutthof angekommen, will meine Grossmutter nur noch sterben. Sie hat ihre Familie nicht mehr. Nur der Gedanke an ihren Mann verhindert, dass sie ganz aufgibt. Sie ist schliesslich auch erleichtert, dass ihre Eltern das Leben im Konzentrationslager nicht mitmachen müssen. «Ich dachte, dass ich am Leben gelassen worden war, um für den Rest der Familie zu leiden», sagt sie in ihrem Videotestimonial.
Ihrem Mann zuliebe macht Mala Pfeffer also weiter. Sie erstellt Schnittmuster für Kleider, die aus Decken geschneidert werden, was eigentlich verboten ist. Sie erhält Schläge dafür. Sie wirft ihrem Mann Brot und einen Liebesbrief über den Zaun. «Wir hatten eine Abmachung: Wenn wir getrennt werden, treffen wir uns nach dem Krieg in Paris beim Eiffelturm, am 14. Juli», sagt sie. Mala versucht, ihre Menschenwürde inmitten dieser Hölle zu bewahren.
Nach zwei Monaten geht es weiter nach Dresden – in die Munitionsfabrik. Die Lebensbedingungen sind hier etwas erträglicher. Was aber bleibt, ist der unstillbare Hunger.
Am 13. Februar 1945 regnen Bomben auf Dresden herunter. 25'000 Menschen sterben im Bombenhagel der Alliierten. Meine Grosseltern freuen sich aber über das Bombardement. «Es war für uns der Beweis, dass die Deutschen den Krieg verlieren könnten», sagt meine Grossmutter später.
Als auch die Munitionsfabrik getroffen wird, nutzen einige das Chaos, um ihren Hunger zu stillen. Im Büro der Lagerleitung finden sie Sandwiches. «Ich hatte noch nie so etwas Himmlisches geschmeckt», sagt meine Grossmutter. Sie essen, während die Decke über ihnen brennt.
Mala wiegt nach der Befreiung 27 Kilogramm.
Nach der Bombardierung von Dresden ist die Munitionsfabrik nicht mehr funktionstüchtig. Mitte April folgt der Todesmarsch nach Theresienstadt. Es ist ein tagelanger Marsch, Suppe gibt es ein oder zwei Mal. Einige verhungern, darunter die Schwester und der Schwager meines Grossvaters. Wer nicht mehr kann, wird erschossen. Nach zehn Tagen endlich: Ankunft in Theresienstadt. Und zwei Wochen später, am 8. Mai 1945, wird das Lager von den Sowjets befreit.
Meine Grossmutter wiegt nach der Befreiung 27 Kilogramm. Doch sie hat im Krieg weit mehr als nur Gewicht verloren.
Das Vergessen – eine wichtige Eigenschaft
Eine Rückkehr nach Polen können sie sich nach Kriegsende nicht vorstellen. Nach drei Jahren in Prag wandert das Paar 1948 nach Australien aus. Sie haben dort zwei Töchter. Sie konzentrieren sich auf das Heute und das Morgen, geniessen ihr Leben.
Ich fragte mich als Kind und Jugendlicher oft, warum meine Grossmutter nicht mehr über den Holocaust sprach. Warum sie mir Happyend-Geschichten über den Holocaust erzählte. Meine Mutter sagt, ihre Fähigkeit das Positive zu sehen und die schlechten Erinnerungen auszublenden, dass sei eine der grossen Stärken meiner Grossmutter gewesen. Denn ihre traumatischen Erinnerungen hätten ihr Leben vergiften können.
Für meine Grossmutter war das Vergessen, das Wegschliessen der Erinnerung also eine Art Überlebensstrategie.
Mein Grossvater stirbt 1962 – ich lerne ihn nie kennen. Mala stirbt 1997.
Ich bereue es heute, dass ich meiner Grossmutter nicht mehr Fragen zu ihren Erlebnissen gestellt habe. Ich bedaure es, dass sie mir nicht mehr erzählt hat. Antworten auf meine Fragen kann mir heute nur noch ihr Videotestimonal liefern. Sie stellt sich in diesem vierstündigen Interview, das sie am Jewish Holocaust Center in Melbourne aufgezeichnet hat, ihren Dämonen so gut es geht. Aber sie behält auch Vieles für sich.
Meine Grossmutter erzählte den Holocaust auf ihre Weise. Meist erzählte sie meiner Schwester und mir Anekdoten, wie die vom Sandwich, das sie ass, während Dresden zu Schutt und Asche zerbombt wurde. Sie erzählte den Holocaust auf diese Weise, weil sie anders nicht glücklich und normal hätte überleben können. Und mit Überleben kannte sie sich aus.