Die Briefe von HEKS, Helvetas oder anderen Hilfsorganisationen flattern regelmässig in unsere Briefkästen. Ihr Blickfang: Das Foto einer Bäuerin aus Guatemala oder eines Hirten aus Burkina Faso. Die Bilder sollen uns dazu animieren, den Einzahlungsschein auszufüllen und grosszügig zu spenden.
Früher zeigten diese Briefe meist arme, hilfsbedürftige Menschen, die flehend in die Kamera blickten. Sie appellierten an unser Bedürfnis, zu helfen. Hanspeter Bigler, Leiter Kommunikation beim evangelischen Hilfswerk HEKS, spricht vom «White Saviourism», dem weissen Rettertum, das noch immer weit verbreitet sei.
«Viele weisse Menschen glauben – bewusst oder unbewusst –, dass sie legitimiert seien, andere Menschen zu retten oder aufzuklären», sagt Bigler. Das zeigte sich etwa auch in einer Umfrage, die das HEKS im Rahmen von Alliance Sud vor Kurzem durchführte.
Stereotypen machen spendefreudig
Bigler ist überzeugt davon, dass viele Spenderinnen und Spender hinter dem Prinzip einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit stehen. Sie möchten, dass die Menschen im globalen Süden in die Hilfsprojekte eingebunden werden und mitentscheiden können, wie die Spendengelder eingesetzt werden.
«Andererseits reagieren Spendende mit ihrem Spendenverhalten noch immer positiv auf die Darstellung von Elendsstereotypen», gibt Bigler zu bedenken. Will heissen: Schweizerinnen und Schweizer spenden mehr, wenn an ihr weisses Rettertum appelliert wird.
Dasselbe gilt beim «Korruptionsstereotyp». «Viele Spendende gehen davon aus, dass Partnerinnen und Partner im globalen Süden korrupt sind», erklärt Hanspeter Bigler. «Und was folgt für sie daraus? Die Forderung nach paternalistischer Kontrolle der Partnerinnen und Partner.»
Es braucht eine Bildkorrektur
Genau hier setzt «Decolonizing Aid» an. Denn die Stereotypen von armen, hilfsbedürftigen und oft korrupten Menschen im globalen Süden und vom edlen Retter im globalen Norden haben ihre Wurzeln im Kolonialismus und sollen nun «entkolonisiert» werden.
«Da geht es um Sensibilisierung», sagt Bigler, und hat auch die Spendenbriefe im Kopf. «Wir zeigen die Menschen nicht mehr als hilfsbedürftige Opfer, sondern authentisch in ihrem Alltag, als aktiv Handelnde, die ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen.»
Das berge zwar das Risiko, dass weniger gespendet werde. «Aber wir schaffen mit unserer Kommunikation ein Bild der Menschen im globalen Süden und haben damit eine Verantwortung», sagt Bigler. Diese Haltung sei allerdings noch nicht bei allen Hilfswerken angekommen.
Um mehr Verbindlichkeit zu schaffen, hat das HEKS gemeinsam mit neun weiteren Hilfsorganisationen ein Manifest für eine verantwortungsvolle Kommunikation erarbeitet. So sollen Partnerinnen und Partner aus dem globalen Süden in die Kommunikation mit einbezogen werden. Ziele sollen erklärt, Misserfolge nicht verschwiegen werden. Und: Die Hilfswerke wollen für die Probleme im globalen Süden sensibilisieren.
Partnerschaft statt Paternalismus
Das heisst auch: Hilfswerke wie das HEKS mischen sich in die politische Diskussion ein, kürzlich etwa bei der Konzernverantwortungsinitiative . Riskieren sie damit nicht, Spendende zu vergraulen?
«Klar, manchmal sind wir unbequem, wenn wir Menschenrechtsverletzungen anprangern», räumt Hanspeter Bigler ein. «Aber wir beim HEKS waren schon immer politisch.» Zudem könne eine klare Haltung helfen, neue, jüngere Spenderinnen und Spender zu mobilisieren.
«Decolonizing Aid» heisst in der Kommunikation also, ein neues Bild von Menschen im globalen Süden vermitteln. Sie als selbstbestimmte Menschen zu zeigen, die das Geld aus der Schweiz zwar durchaus benötigten, aber nicht als hilfsbedürftige Arme, sondern als Partnerinnen und Partner.
Zum Beispiel die Kürbis kasse
Doch wie sieht derartige Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe aus? Sandrine Cottier ist verantwortlich für die Programmentwicklung beim römisch-katholischen Hilfswerk Fastenaktion und erzählt von einem Programm in Senegal. Dort verschuldeten sich die Menschen bei Ernteausfällen jeweils und kamen aus der Schuldenspirale nicht mehr heraus. Fastenaktion hat vor Ort einen Workshop organisiert.
«Da zeigte sich, dass die Menschen vor Ort selbst eine Idee für eine Lösung hatten: die Solidaritätskalebasse.» Diese Kalebasse, ein halber, ausgehöhlter Kürbis, ist eine Art kollektives «Sparkässeli»: «Die Kalebasse wird mit einem Tuch bedeckt, so dass jede und jeder anonym einen Beitrag reinlegen kann», sagt Cottier. «Jeder und jede kann reinlegen, was sie möchten. Wenn kein Geld da ist, kann es auch ein Kieselstein sein, der klingt wie Geld.» Wer finanziell in Not ist, kann sich dann Geld aus dieser Kalebasse nehmen.
Und die Männer?
«Die Menschen vor Ort haben definiert, wofür das Geld gebraucht werden kann, etwa für Nahrungsmittel, aber auch für Schulmaterial oder einen Arztbesuch», erzählt Cottier. Diese Solidaritätskalebassen waren ein derartiger Erfolg, dass das Programm nun auch von der senegalesischen Regierung unterstützt wird.
Zudem habe das gemeinsame Sparen die Menschen zusammengeschweisst und ermächtigt, erzählt Cottier: «Es hat soziale Prozesse ausgelöst. Die Leute haben sich als Gemeinschaft stärker gefühlt, haben gelernt, sich zu organisieren. Das gibt ihnen Kraft.»
Die Kürbiskasse ist ein Paradebeispiel für Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe. «Die Rolle von Fastenaktion war es, den Prozess zu begleiten und kritische Fragen zu stellen, etwa zum Thema Geschlechtergerechtigkeit», sagt Cottier. Denn es benutzten vor allem Frauen die Kalebasse.
Wie geht «auf Augenhöhe»?
Doch zeigt dieses kritische Nachfragen nicht, dass die Zusammenarbeit nicht vollständig partnerschaftlich funktioniert? Dass es noch immer ein Gefälle gibt zwischen der Hilfsorganisation als Geldgeberin, die ihre Wertvorstellungen durchsetzt?
Was, wenn die senegalesischen Bäuerinnen und Bauern entschieden hätten, dass nur Frauen oder nur Männer die Kalebasse benutzen dürfen? Genau diesen Punkt kritisiert Elisio Macamo. Er ist Professor für Afrikastudien an der Universität Basel und forscht zur Entwicklungszusammenarbeit.
Hilfe als Geschäft
«Die Werte in der Entwicklungszusammenarbeit werden im globalen Norden demokratisch ausgehandelt und dürfen dann im globalen Süden nicht mehr verändert werden.» Das widerspreche dem Vorsatz einer gleichberechtigten Zusammenarbeit.
Wenn man das Prinzip «Decolonizing Aid» zu Ende denke, so Macamo, müsste man Entwicklungszusammenarbeit als Geschäft betreiben wie eine Dienstleistung. «Die Menschen im globalen Süden holen sich die Expertise, aber vollkommen wertfrei.»
Oder aber man diskutiere über die Werte, auch über Menschenrechte. «Werte als selbstverständlich anzusehen ist gefährlich, weil wir so riskieren, unsere Menschlichkeit zu verlieren», sagt Macamo.
Kontrolle oder Misstrauensvotum?
Sandrine Cottier von Fastenaktion betont, dass sie mit ihren Partnerinnen und Partnern im globalen Süden durchaus über Werte diskutierten. Auch wenn es unangenehm werde, wie etwa bei der Diskussion um Korruption.
«Als wir das Thema bei unseren Koordinatorinnen vor Ort angesprochen haben, kam das gar nicht gut an. Sie sahen es als Misstrauensvotum.» Heute, nach intensiven Diskussionen, sei selbstverständlich, dass Missstände gemeldet würden.
Doch nicht nur die Menschen im globalen Süden müssten umdenken, sagt Sandrine Cottier, sondern auch wir im globalen Norden. «Auch die Spenderinnen und Spender müssen Macht abgeben», sagt sie. Etwa, wenn es darum geht, Resultate der Entwicklungszusammenarbeit zu kontrollieren.
Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe liefert meist erst langfristig Resultate, der Erfolg ist keineswegs garantiert. Anders etwa als beim Bau eines Brunnens.
Teilen ist das bessere Helfen
Der «Decolonizing Aid»-Ansatz ist ein Paradigmenwechsel. «Es geht eben nicht mehr nur darum zu helfen, sondern Menschen zu stärken, damit sie soziale und politische Prozesse mitgestalten und ihre Rechte einfordern können. Es geht um globale Gerechtigkeit», sagt Cottier.
Allerdings gibt es auch aus dem globalen Süden Kritik. Zum Beispiel von der pakistanischen Frauenrechtsaktivistin Themrise Khan. An einer Veranstaltung des evangelischen Hilfswerks Mission 21 sagte sie: «Nach über 30 Jahren Entwicklungshilfe hat sich in Sachen Frauenrechte in Pakistan kaum etwas verändert.»
Khan wirft in ihrem Vortrag die Frage auf, weshalb die Länder des globalen Südens überhaupt noch Hilfe akzeptieren und fordert: «Wir im globalen Süden müssen die Kontrolle übernehmen. Wir müssen uns gegen die Hilfe wehren.» Schliesslich sei im globalen Süden schon in den 1970er-Jahren von «Decolonizing Aid» die Rede gewesen. Doch erst im neuen Jahrtausend, als das Thema auch im Westen angekommen sei, habe sich etwas verändert.
«Ein Widerspruch in sich selbst»
Ins gleiche Horn stösst auch Professor Elisio Macamo, geboren in Mozambique. Er begrüsst die Idee hinter «Decolonizing Aid»: «Ich finde es gut, dass man sich Gedanken darüber macht, welche Rolle Machtverhältnisse in der Entwicklungszusammenarbeit spielen, wer das Sagen hat, und welche Vorstellungen Vorrang haben.» Die Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich zu «entkolonisieren», hält er allerdings für unmöglich. «Das ist ein Widerspruch in sich selbst.»
Elisio Macamo weist darauf hin, dass das Erbe der Kolonialzeit bis heute nachwirke, in Institutionen wie der Weltbank oder des internationalen Währungsfonds, die Entwicklungsgelder sprechen, diese aber an Bedingungen zur Marktöffnung knüpfen.
Diese Strukturen – wie die Entwicklungszusammenarbeit der Hilfsorganisationen, bewirkten eine Schwächung der Länder des globalen Südens – und damit genau das Gegenteil von «Decolonizing Aid»: «Die Entwicklungszusammenarbeit hat die Tendenz, Politik vor Ort zu zerstören oder überflüssig zu machen.» Denn das Geld und die Ratschläge schränkten den Raum ein, um in den Ländern des globalen Südens Lösungen zu finden.
Stärken der Zivilgesellschaft
Sandrine Cottier von Fastenopfer und Hanspeter Bigler vom HEKS widersprechen. Gerade mit dem «Decolonizing Aid»-Ansatz werde die Zivilgesellschaft gestärkt, die Lösungen würden vor Ort erarbeitet.
Sie sind überzeugt, dass «Decolonizing Aid» für die Menschen in Burkina Faso, Guatemala oder Indien tatsächlich einen Unterschied machen kann. Auch wenn dafür hier in der Schweiz noch ein Umdenken stattfinden muss.