SRF: Nach den Krawallen in Charlottesville prangert ein Twitter-User Teilnehmer der rechtsextremen Demonstration an, indem er deren Namen und Fotos publiziert. Was halten Sie von dieser Aktion?
Marlis Prinzing: Es ist verständlich, dass sich Menschen über die Gewalt empören und deshalb konstruktiv handeln möchten. Die Initianten haben es wohl nicht nur schlecht gemeint.
Die Aktion widerspiegelt aber, wie hilflos man offenbar ist. Das ist eindeutig eine Form des Online-Prangers, bei der es um Ausgrenzung und Denunziation geht. Das hat mit einer demokratischen Auseinandersetzung wenig zu tun.
Auch agentin.org sorgt derzeit für Diskussionen, insbesondere weil die Heinrich-Böll-Stiftung das Projekt unterstützt hat. Dort wurden angebliche Antifeministen angeprangert.
Es ist erschreckend, was die Heinrich-Böll-Stiftung geliefert hat – dass eine Stiftung sich derart im Ton vergreift. Das befeuert das Publikum: Wenn die das dürfen, dann dürfen wir das erst recht. Diese Wirkung war zwar bei der Stiftung gewiss nicht geplant. Aber dieses Beispiel lehrt, dass gerade Profis sorgfältig die möglichen Folgen des Stils bedenken sollten, in dem sie Kritik üben.
Ist es denn nicht legitim, wenn etwa Neonazis zur Rechenschaft gezogen werden?
Die Frage ist, wer dazu autorisiert ist. Wir haben einen Rechtsstaat, der uns viel Wert sein sollte. Für alles, was strafbar ist, ist die Justiz zuständig. Es ist nicht in Ordnung, wenn man in der Nachbarschaft ein paar Leute mit dicken Prügeln sucht und gemeinsam auf andere losgeht – im übertragenen Sinne.
Da übernehmen Bürgerinnen und Bürger Funktionen, die nicht die ihren sind.
Wir können es nicht gut finden, wenn jeder beginnt, Leute an den Pranger zu stellen, mit deren Auffassungen er nicht einverstanden ist. Da übernehmen Bürgerinnen und Bürger Funktionen, die nicht die ihren sind.
Gibt es also nie ein überwiegendes öffentliches Interesse für solche Aktionen?
Nein. Es ist wichtig, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Aber das muss auf eine andere Art und Weise stattfinden. Im Mittelalter war der Pranger als Strafe üblich. Man hat die Verurteilten öffentlich ausgestellt und mit faulem Obst beworfen. Durch die Aufklärung haben wir das überwunden. Der digitale Pranger führt uns wieder in mittelalterliche Verhältnisse zurück.
Bei Strafen geht es heute nicht mehr um Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Es geht darum, dass Menschen einsehen, dass dieses Verhalten nicht geht, und dass sie dann – Stichwort Resozialisierung – unter bestimmten Voraussetzungen wieder ein Leben in der Gesellschaft führen können.
Wenn die Polizei Fahndungsfotos ins Internet stellt, ist das aber auch eine Art Pranger.
Ja, aber da gibt es berufsethische Schutzvorkehrungen, das ist nur unter bestimmten Voraussetzungen statthaft. Wobei es auch da Entwicklungen gibt, die zu denken geben.
Gehen die Probleme von Online-Prangern über die verletzten Persönlichkeitsrechte hinaus?
Das kann sehr weit gehen. Da gehen Hetzjagden los, die niemand mehr kontrollieren kann. Das kann zu Cybermobbing führen. Man wird online gejagt und empfindet derart Gewalt, dass man keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich etwas anzutun, sich umzubringen. Dafür gibt es Beispiele.
Es braucht mehr Medienkompetenz.
Wie soll man mit diesen Online-Prangern umgehen?
Man muss sie thematisieren und sagen, welche Alternativen es gibt. Durch die Digitalisierung können die Leute auch ohne Journalisten als Gatekeeper publizieren.
Das publizierende Publikum muss deshalb erfahren, was professionelle Journalisten in ihrer Ausbildung mitbekommen: Wie greift man kritische Themen auf und wann ist es keine kritische Auseinandersetzung mehr, sondern beschämend und schädlich. Es braucht also mehr Medienkompetenz.
Das Gespräch führte Lukas Keller.