Es ist strahlendes Septemberwetter in Konolfingen. SRF 2 Kultur-Moderatorin Beatrice Kern folgt Waldtherapeutin Sonja Grossenbacher durchs Gestrüpp. Sie drängen vorsichtig Dornenzweige zurück, weichen Brennnesseln aus, lassen hohes Gras über die Handflächen gleiten.
Wind, das Summen der Insekten, das Gezwitscher der Vögel – je tiefer sie ins Unterholz kommen, desto mehr verstummt das Gespräch. Beatrice Kern bekommt von Sonja Grossenbacher eine praktische Einführung ins Waldbaden.
Beim Waldbaden geht es nicht darum, in Badehose munter übers Moos zu hüpfen oder in einem kühlenden Waldweiher zu dümpeln.
Waldbaden bedeutet, besonders achtsam im Wald spazieren zu gehen. Man soll dabei die vorgespurten Wege verlassen und sich auch einmal durchs Unterholz wagen.
Die Achtsamkeitsübung kommt wie Roboter-Haustiere oder minimalistische Sockenroll-Technik aus Japan und wird dort seit den 80er-Jahren als Therapie von den Krankenkassen bezahlt.
Shinrin-Yoku sagen die Japaner dazu, was als «Bad in der Atmosphäre des Waldes» übersetzt werden kann.
Immer wieder zeigt Sonja Grossenbacher nach rechts und links, macht auf spezielle Blattformen oder auf die Struktur von Rinde aufmerksam. Fordert Beatrice Kern auf, kurz innezuhalten.
Alle Sinne auf Empfang
«Beim Waldbaden darf man ruhig einen Baum umarmen. Man muss es aber nicht», betont die Waldachtsamkeits-Trainerin.
Mich hat überrascht, wie schnell ich zur Ruhe kam. Wie schnell der Alltag und seine Probleme verflogen waren und ich mich auf mich konzentrieren konnte.
Sonja Grossenbacher begleitet seit diesem Sommer geführtes Waldbaden. Ihr ist es wichtig, dass die vielfältigen Achtsamkeitsprozesse eine anerkannte Therapieform sind und nicht in der Esoterik-Schublade landen.
«Diese Schublade schreckt viele Menschen ab, denen Waldbaden gerade helfen würde», sagt sie.
Sonja Grossenbacher ist seit der Kindheit im Wald unterwegs. Sie glaubt uneingeschränkt an die Heilkraft des Waldes und den Nutzen als Präventivmedizin für Jung und Alt.
Beim Shinrin-Yoku soll der ganze Organismus in die mit heilsamen Wirkstoffen angereicherte Luft eintauchen, die Bäume, Sträucher und Pilze verströmen.
Über Lunge und Haut soll der Körper die bioaktiven Substanzen aufnehmen können. Der Wald soll so die Abwehrkräfte stärken, den Puls beruhigen, den Blutdruck senken, Diabetes bekämpfen, Stresshormone abbauen.
Dafür sind nicht einmal Bewegung oder eine ausgefeilte Atemtechnik von Nöten: Der Wald soll auch wirken, wenn man einfach nur sitzt.
Der japanische Umwelt-Immunologe Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio gilt als Urvater der Waldtherapie. Laut seinen Studien ist der Wald eine Art Jungbrunnen, der den Menschen Energie und Vitalität schenkt.
Die Heilkraft des Waldes
Es sind vor allem sogenannte Terpene, hinter denen Qing Li heilende Kräfte vermutet. Das sind spezielle Pflanzenstoffe. Sie werden von Blättern und Nadeln freigesetzt und bewirken dabei den typisch harzigen, würzigen Waldgeruch.
Die Bäume setzen die Stoffe gegen Fressfeinde ein, sie wirken wie ein natürliches Antibiotikum. Ob der Mensch von diesen Stoffen ebenfalls profitieren kann, indem er sie einatmet? Davon ist Immunologe Qing Li überzeugt.
Hanns Hatt, Geruchs- und Geschmacksforscher an der Universität Bochum, hat seine Zweifel an den Studien von Qing Li. In Studien sei es schwer, psychologische und pharmakologische Effekte auseinanderzuhalten, sagt er.
Wissenschaftler Hatt hält die Konzentration der Duft- und Botenstoffe der Bäume für schlicht zu gering, um einen physiologischen oder gar pharmakologischen Effekt zu erzeugen. «Ich müsste tagelang im Wald spazieren, damit die Menge ausreicht», sagte er in einem Interview zu Zeit Online.
Die neue Lust an der Natur
Waldbaden trifft auf jeden Fall den Nerv unserer Zeit: In Deutschland werden erste Therapeuten wie Sonja Grossenbacher ausgebildet, «Heilwälder» an der Ostsee eröffnet oder Bücher wie Peter Wohllebens Bestseller «Das geheime Leben der Bäume» geschrieben. Der Wald verwandelt sich für Stadtmenschen gerade von einem Ort voller Zecken zu einem heilenden Flecken Erde.
Neu ist diese Erkenntnis nicht. «Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit, und diese Kraft ist grün», schrieb bereits die mittelalterliche Äbtissin Hildegard von Bingen.
Wenn ich einen Unterschied zwischen dem Waldbaden und einem Waldspaziergang festmachen müsste, ist es wohl die unterschiedliche Intensität.
Doch ging man bisher in den Wald, um Pilze zu sammeln,zu joggen, mit dem Hund spazieren zu gehen oder um am Sonntag von A nach B zu wandern. Der Wald – nicht viel mehr als eine angenehme Kulisse für unsere Hobbys.
Beim Waldbaden wird nun der Wald zum Hauptakteur, der Waldbadende Teil von ihm.
Hören, riechen, tasten, fühlen, sehen. Mit allen Sinnen die Natur erleben. Dabei nimmt jeder Mensch etwas anderes mit. Im besten Fall ein Gefühl von Lebendigkeit.
Ich habe das Waldbaden als eine erfrischende Abkehr vom Alltag empfunden. Hat gut getan.