1. Der Wald als Lebensraum
Extreme wie der diesjährige Dürresommer setzen dem Schweizer Wald zu. Wie kann man ihn für die Klimaerwärmung fit machen? Mit dem idealen Baum-Mix, weiss SRF-Wissenschaftsredaktor Thomas Häusler.
«Zu den Fichten flieh mitnichten, Buchen sollst du suchen», rät der Volksmund dem Wanderer, der vom Gewitter überrascht wird.
Der zweifelhafte Tipp könnte heutzutage auch an Waldexperten gerichtet sein. Sie müssen herausfinden, welche Baumarten am besten mit den steigenden Temperaturen umgehen können.
Schon länger warnen Studien davor, dass etwa Fichten in weiten Teilen der Schweiz verschwinden werden, wenn es 2,5 Grad wärmer sein wird als heute. Für die Holzwirtschaft wäre das ein Problem. Denn die Fichte wächst schnell und bringt am meisten Einkommen.
Vorgeschmack auf die Zukunft
Der sehr trockene und warme Sommer 2018 war ein Vorgeschmack auf die Zukunft: Je wärmer es wird, desto häufiger werden solche Dürresommer, prognostiziert die Klimaforschung.
«An trockenen Orten der Schweiz könnte es für den Wald ungemütlich werden», warnt der Waldforscher Harald Bugmann von der ETH Zürich. In den Wäldern am Südhang entlang des Walensees haben die Bäume bereits im August alle Blätter abgeworfen. Betroffen ist auch das Wallis.
Die Häufigkeit ist die Gefahr
Es seien solche extremen Ereignisse, die dem Wald künftig zu schaffen machen werden, sagt Bugmann – vor allem, wenn sie gehäuft auftreten.
Im Südwesten der USA habe es zwischen 1995 und 2003 fünf trockene Jahre gegeben. Diese Häufung war zu viel: «Auf einer Fläche von 10'000 Quadratkilometern starben fast alle Föhren», sagt Bugmann.
Geschwächte Bäume
Trockenheit schwächt die Bäume nicht nur – sie macht sie auch anfälliger für Schädlinge. Zum Beispiel die Fichte für den Buchdrucker, eine Borkenkäferart.
Ist ein Sommer besonders warm, können in den Bergen zwei bis drei statt nur eine Generation von Käfern heranwachsen und die Fichten geraten noch stärker unter Druck.
«Wenn solche extremen Ereignisse nicht allzu oft auftreten, können die Forstleute den Wald relativ leicht auf die steigenden Temperaturen vorbereiten», sagt Harald Bugmann.
Viele Waldbesitzer pflanzen heute vermehrt verschiedene Laubbäume wie Eichen und Buchen statt Fichten.
Der umgebaute Wald
In Deutschland werde der Wald radikaler und schneller umgebaut, sagt Harald Bugmann: «Im neuen Forstinventar sieht man, dass dort die Fichte bereits stark zurückgegangen, also ersetzt worden ist.»
Die deutschen Förster setzen neben den einheimischen Laubbaumarten auch auf die nordamerikanische Douglasie, ein Nadelbaum der mit dem wärmeren Klima besser zurechtkommen soll. Allerdings brennt die Douglasie wie Zunder, wenn es trocken ist, und die Jungbäume brechen leicht, wenn sie mit Schnee belastet sind.
Das Schweizer Waldgesetz schreibt den Waldbesitzern vor, nur standortgerechte Bäume zu pflanzen. Das heisst: einheimische Bäume. «Gegenwärtig genügen diese Arten, um den Wald an den Klimawandel anzupassen», sagt Harald Bugmann. «Aber es kann sein, dass wir in 20 Jahren zusätzliche Baumarten aus südlicheren Ländern brauchen.»
Der Baum der Zukunft
Die eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) bereitet eine Art Casting für den Baum der Zukunft vor.
Rund 20 Arten werden in verschiedenen Regionen der Schweiz angepflanzt und über die Jahre verfolgt, um für die verschiedenen Standorte die besten Bäume zu finden. Darunter sind auch einige fremdländische Arten, zum Beispiel die Atlaszeder.
Die Forstwissenschaftler sind für die wärmere Zukunft gut aufgestellt. Jedoch könnten sich ihre Pläne als ungenügend erweisen.
Erwärmt sich die Welt statt um zwei, um drei Grad oder mehr, warnt Harald Bugmann, «dann müssen wir uns auf unangenehme Überraschungen gefasst machen». Es könnten dann zum Beispiel grossflächig Wälder absterben.
2. Der Wald als Erholungsraum
Kindergärtner, Pensionierte, Biker: Immer mehr Menschen verbringen Zeit im Wald. Wie kommt man sich da nicht in die Quere? Kultur-Reporterin Karin Salm auf der Suche nach Auswegen im Winterthurer Wald.
Als Leiter von Stadtgrün Winterthur und oberster Stadtförster kennt Beat Kunz den Winterthurer Wald bestens. Stolz weist er darauf hin, dass Winterthur die waldreichste Stadt der Schweiz ist: 40 Prozent der Gemeindefläche ist mit Wald bedeckt. Davon ist nur ein Fünftel in Privatbesitz.
«Rücksichtnahme ist gefragt»
Die forstwirtschaftliche Nutzung des Waldes spielt zusehends eine Nebenrolle – auch in Winterthur. «Mit dem Wald produzieren wir vor allem Naherholung für die Stadt», bringt es Stadtgrün-Chef Kunz auf den Punkt.
Was logisch klingt, ist im Alltag kompliziert. «Die Herausforderungen sind gross, da die Natur selbst auch ihren Platz braucht. Deshalb ist die Rücksichtnahme der Waldnutzer gefragt», ergänzt Kunz.
Der Blick der Biker
Den Joggerinnen, Spaziergängern, Bikern, Hundebesitzerinnen und Kindern wird im Winterthurer Wald viel geboten: ein weitverzweigtes Netz mit breiten und schmalen Wegen, Bänken, Feuerstellen und 28 Gruppenplätzen für die Waldkindergärten.
Trotzdem verlassen die Waldbesucher immer wieder die vorgegebenen Pfade. Zum Beispiel bahnen sich Biker gerne ihre Strecken quer durch den Wald. Ihnen machen enge Kurven, steile Hänge und wilde Wurzeln Spass.
Verschreckte Tiere
Davon zeugen die vielen Biker-Strecken im Winterthurer Wald. Das sei schwierig, sagt Kunz nachdenklich. Die Biker richten Schäden an in der Natur, erschrecken vor allem nachts Tiere und begünstigen die Erosion.
ZGB-Artikel 699 erlaubt zwar jedermann das Betreten des Waldes, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen. Der Naturgenuss steht allen offen. Gemäss Waldgesetz ist das Radfahren und Reiten aber nur auf Strassen und Wegen erlaubt. Nicht aber auf Trampelpfaden quer durch den Wald.
«Grundsätzlich sind wir angehalten, Biker zu büssen. Aber wir versuchen es in erster Linie mit Aufklärung. Penetrante Biker verzeigen wir. Illegale Strecken werden gesperrt», erklärt Beat Kunz.
Naturschutz bedeutet Kommunikation
In einer Stadt wie Winterthur bedeute Naturschutz eben immer Kommunikation, betont Kunz. Kommunikation ist die eine Strategie, die andere die Kanalisierung.
Das heisst: Stadtgrün Winterthur versucht die Joggerinnen und Biker so zu lenken, dass Flora und Fauna neben den Menschen genug Platz haben. Darum müsse man sich überlegen, für die Biker auch im Winterthurer Wald eine Downhill-Strecke zu bauen, sagt Stadtgrün-Chef Kunz.
Kostet der Wald bald Eintritt?
Während die forstwirtschaftliche Bedeutung des Walds abnimmt und der gesellschaftliche und klimatische Nutzen zusehends wächst, stellt sich die Frage nach den Kosten. Und auch die, ob Waldbesitzer am Ende nicht Eintritt verlangen müssten.
Weil die grösste Waldfläche im Besitz der Stadt Winterthur ist, zahlen die Jogger, Spaziergängerinnen und Biker für die Benützung des Waldes letztlich mit den Steuern.
«Aber es wäre vermutlich richtig, über eine Form von Entschädigung für private Waldbesitzer nachzudenken», findet Beat Kunz.
3. Der Wald als Sehnsuchtsort
Ort der Sehnsucht, der Gefahr, des Zaubers und der Wunder: Der Wald spielt in der deutschsprachigen Literatur seit jeher eine grosse Rolle. Auf ganz unterschiedliche Weise, schreibt Literaturredaktor Felix Münger.
Anfang September 1780, früher Abend. Johann Wolfgang von Goethe wandert im düsteren Fichtenwald bei Ilmenau in der Nähe von Thüringen. Er erreicht einen Aussichtspunkt. Der Blick, der sich dem Dichterfürst bietet, ist prächtig.
Und es küsst ihn die Muse. Goethe fällt jenes kurze Gedicht ein, welches danach zur wohl berühmtesten deutschsprachigen Ode an den Wald überhaupt avancieren wird: «Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest Du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde ruhest du auch.» Der ästhetisch vollkommene Wald als Memento mori.
Wie schon die alten Germanen
Die sinnbildliche Überhöhung des Waldes war nicht Goethes Erfindung. Ähnliches geschah – wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen – schon in der Antike.
So schrieb etwa der römische Historiker und Senator Tacitus in seinem Werk «Germania» dem Wald eine den Menschen formende Funktion zu: Die Germanen, die bestimmte Bäume wie die Esche oder die Eiche mit Göttern in Verbindung brachten, würden durch «Haine und Wälder geheiligt».
Tacitus’ Beschreibung ist eines der frühesten literarischen Zeugnisse, das im deutschsprachigen Raum dem Wald eine mystische Kraft zuwies.
Der Wolf, die Fee und die Hexe
Derartige Vorstellungen des Waldes setzten sich in den späteren Jahrhunderten zunächst vor allem in den Märchen fort. Ob Schneewittchen, ob Rotkäppchen, Brüderleien und Schwesterlein oder Hänsel und Gretel: In den Märchen der Gebrüder Grimm ist der Wald als Kulisse von zentraler Bedeutung.
Er bildet eine Gegenwelt zur Realität und ist im Einzelfall ganz unterschiedlich ausgestaltet: Einmal ist er der Ort, wo die böse Hexe haust, ein anderes Mal die Stätte der Versuchung, dann wieder der Platz der feenhaften Verzauberung.
Der Wald war – wie im Märchen – auch in der übrigen Literatur stets ein ambivalentes Terrain. Er konnte für Schillers Räuber ein Raum der Freiheit bedeuten.
Gleichzeitig war er aber immer auch ein Ort der Unwägbarkeiten und des Unheils – etwa wenn man als Unbescholtener das Pech hatte, den ausserhalb der Polizeiaufsicht stehenden Räubern in die Hände zu fallen.
Fern von der Welt
Immer aber stand der Wald in der Literatur für Menschenferne. Und diese wurde in der deutschen Romantik ab 1800 zum ersehnten Ideal: die Einsamkeit des Waldes als Gegenwelt zur gefühlsentleerten und oberflächlichen Welt draussen.
Bereits Matthias Claudius dichtete 1779 im Abendlied «Der Wald steht schwarz und schweiget» und beschwor damit die Versenkung in die Naturschönheit.
Unvergessen sind die Texte von Joseph von Eichendorff, des Romantikers und Walddichters schlechthin, etwa: «O Thäler weit, o Höhen, o schöner, grüner Wald, … da draussen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt.»
Auf Abwegen
Die deutschen Nationalisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts griffen diese romantische Traditionslinie auf und sponnen sie in ihrem Sinn weiter: Im Wald lasse sich jene «deutsche Tiefe» erleben, welche dem kalten Rationalismus der Franzosen überlegen sei.
Ein pseudowissenschaftlicher Text aus der Nazizeit versteigt sich gar zur Behauptung, in der Wildnis des Waldes sei eine «gehärtete Rasse» herangewachsen.
Elias Canetti schrieb 1960 in seinem Hauptwerk «Masse und Macht», dass sich die in hunderten von Liedern und Gedichten besungene Waldromantik in Deutschland bis in die Armee fortgesetzt habe.
Der Wald sei zum Symbol für die Masse geworden, in welcher das Individuum untergeht: Die Hitler-Armee deutete Canetti als «marschierenden Wald».
Die grosse Unsicherheit
Und heute, wo der Tropenwald abgeholzt wird, wo die Landschaften verstädtern und sich das Klima wandelt? Heute feiern Wald- und Naturbeschreibungen eine gewisse Renaissance – auch ausserhalb der deutschsprachigen Literatur.
Kerstin Ekman oder Joseph Boyden sind nur zwei Beispiele von mehreren aktuellen Autorinnen und Autoren, die in ihren Werken dem Wald einen wichtigen Platz einräumen.
Oft bleibt das gezeigte Bild jedoch unscharf und fragend. Es ist bestimmt von der Unsicherheit, ob Wald und Natur überhaupt überleben werden – und mit ihnen der Mensch.