Was heute wie Landesverrat klingt, wurde im frühen 19. Jahrhundert unter Deutschschweizer Gebildeten heftig diskutiert: Ob man den Dialekt zugunsten des Hochdeutschen aufgeben sollte.
Wir wissen heute, dass die Antwort «nein» war. Aber wie genau hat sich die sprachliche Sonderrolle der Deutschschweiz entwickelt? Das Buch «Schweizerdeutsch» rollt die Geschichte von Sprache und Identität anhand von Originaldokumenten auf.
Die etwas andere Art der Zweisprachigkeit
Um 1800 hatte sich auch hierzulande Standarddeutsch als Schriftsprache durchgesetzt. Anders als in Deutschland blieb aber der Dialekt die mündliche Alltagssprache.
Durch diese sogenannte funktionale Diglossie, Hochdeutsch fürs Schreiben und Mundart fürs Reden, wurde die sprachliche Sonderrolle der Deutschschweiz offensichtlich. Und diese geriet in den Strudel der herrschenden Spracheinstellungen.
Hochkultur ohne Hochdeutsch?
Für einige waren Dialekte ein heruntergekommenes Hochdeutsch, das es auszumerzen gelte. Zudem herrschte die Überzeugung, komplexes Denken sei nur in einer kultivierten, komplexen Sprache möglich. Also nicht im Dialekt.
Zum Beispiel forderte der Aargauer Arzt und Politiker Albrecht Rengger im Jahr 1838 von seinen Mitbürgern, jede Gelegenheit zu ergreifen, sich der «Knechtschaft» der Dialekte zu entziehen und Hochdeutsch zu sprechen.
Dialekt gibt der Schweiz Identität
Auf der anderen Seite entdeckte man die Mundarten als authentische Ursprache des Volkes und es begann ihre wissenschaftliche Erforschung. Im Windschatten des Schriftstellers Johann Peter Hebel und seiner «Allemannischen Gedichte» entstanden auch erste literarische Werke auf Mundart.
Vor allem erhielt der Dialekt aber eine dezidiert politische Bedeutung: Grundlage eines republikanischen Staatswesens sei, dass sich «alle Bürger derselben Sprache bedienen», so der Basler Theologe Karl Rudolf Hagenbach in einer Schrift aus dem Jahr 1828.
Um nicht dem deutschen Modell zu folgen, wo es zwischen «Vornehmen und Pöbel» eine sprachliche Scheidewand gebe, sei der Dialektgebrauch geradezu staatsbürgerliche Pflicht aller «höhern Stände», so Hagenbach.
Schweizerdeutsch wird Nationalsprache
Das «einfache Volk» mag von diesem Gelehrtendisput wenig mitbekommen haben. Aber tatsächlich war die demokratische Haltung der gebildeten Schichten ein Grund dafür, dass der Dialekt hierzulande keinen Stallgeruch bekam – also nicht sozial stigmatisiert wurde.
Im Gegenteil: Das Bewusstsein wuchs, dass Schweizerdeutsch eine eigene Sprache ist und ein Symbol für den Nationalcharakter der Deutschschweiz. Zwangsläufig sozusagen, denn Hochdeutsch war als Nationalsprache Deutschlands bereits «vergeben».
Das Bollwerk Mundart gegen Norden
Die Mundarten bekamen also ihren festen Platz in der Sprachsituation der Deutschschweiz. Aber das ist erst die Hälfte der Geschichte. Der Einfluss des Hochdeutschen in Schule, Kirche und sogar in der Öffentlichkeit wurde trotzdem immer grösser.
Auch die Angst vor der Verwässerung oder gar dem gänzlichen Verlust des Dialekts nahm zu. Dass es nicht so weit kam, hängt wohl weniger mit dem Aktionismus der Sprachgelehrten und Patrioten im 19. Jahrhundert zusammen, als mit der politischen Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Zur Zeit des Nationalsozialismus erhielten die Mundarten im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung eine identitätsbewahrende Rolle und eine Aufwertung, die heute noch nachwirkt.
Heisst es nun «stricke» oder «lisme»?
Wer eine Geschichte der Mundart und der Mundartkultur erwartet, wird vom Buch «Schweizerdeutsch. Sprache und Identität von 1800 bis heute» enttäuscht. Mani Matter und Rudolf von Tavel kommen genauso nur am Rande vor wie die Frage, ob «stricke» oder «lisme» korrekt sei.
Der Anspruch der Autorinnen und Autoren ist abstrakter: Sie erzählen die wechselhafte Geschichte der Einstellungen zum Schweizerdeutschen, wie sie in schriftlichen Dokumenten überliefert ist. Das Hin und Her zwischen «Heimatschutz» und «Hochkultur» im Umgang mit dem Dialekt: so unterhaltsam wie spannend. Noch nie wurde diese Geschichte so umfassend erzählt.