Birkis. So nannte meine Mutter die bequemen Hausschuhe, in die sie unsere Kinderfüsse steckte. Meine kleine Schwester trug rote Lacksandalen, die andere braune Zehentreter. Ich selbst bekam blaue, vorne geschlossene. An den Füssen meiner Mutter schimmerten drei schmale violette Riemen. Mein Vater schlappt bis heute in schwarzen «Arizonas» durch das Haus, selbstverständlich mit Socken.
In meiner westdeutschen Kindheit durften Birkenstock-Sandalen nicht fehlen, obwohl ich diese Ökolatschen damals nicht ausstehen konnte. Anfang der 2000er-Jahre wollte ich Nike-Turnschuhe.
Vom Schandschuh zur Starsandale
Seit damals legte die deutsche Ledersandale mit Korkfussbett einen weltweiten Aufstieg par excellence hin. Ein Ende ist bislang nicht in Sicht.
Jährlich gehen gut 30 Millionen Paar Schuhe vom Fliessband, die in 90 Ländern verkauft werden. Auf Instagram finden sich unter #Birkenstock 1.5 Millionen Beiträge. Selbst im Kino hatten die bodenständigen Treter kürzlich einen Auftritt: Im neuen «Barbie»-Film spielen sie eine wichtige Rolle.
Die Anfänge vor 60 Jahren waren dagegen schwierig: Karl Birkenstock präsentierte auf einer Fachmesse in Düsseldorf die erste Fussbettsandale. Sie ähnelte dem heutigen Modell «Madrid». Damals hiess sie «Gymnastiksandale». Der Enkel des Orthopäden Carl Birkenstock machte sich mit dem Schuh zum Gespött der Besucher: «Man hat uns Störenfriede und Spielverderber genannt, weil wir ausgeschert sind», sollte sich Karl Birkenstock später erinnern.
Zum Öko-Image trug Ende der 60er-Jahre die Hippiebewegung in den USA bei – ein robuster, minimalistischer Schuh passte gut zur Kapitalismuskritik. In den 80er-Jahren erkannten dann emanzipierte Frauen das subversive Potenzial der klobigen Sandale. Schliesslich verkehrt sie jedes weibliche Schuhattribut – vom Stöckelabsatz bis zur eleganten Schuhspitze – ins Gegenteil.
Der coole Gesundheitsschuh
In Deutschland entdeckte in den 70er-Jahren zuerst das Krankenhauspersonal den bequemen Schuh für sich. Später zog die Friedensbewegung nach.
Einen regelrechten Birkenstock-Hype beobachtet die Modedesignerin und Trendforscherin Bitten Stetter erst seit einigen Jahren: «Zur Zielgruppe gehörten bis etwa 2010 umwelt- und gesundheitsbewusste Menschen, denen Mode weniger wichtig war.» Das änderte sich im Verlauf der letzten Jahre rasant. Plötzlich waren die Sandalen an den Füssen modebewusster Grossstädter zu sehen, von New York bis Tokyo.
Trotz dieses Trends musste ich selbst erst einmal um den halben Globus reisen, um mich für dieses urdeutsche Produkt zu begeistern. Während meines Auslandssemesters in Kanada trugen meine vier Mitbewohner die Sandalen rund um die Uhr. «Birkenstock is so cool», fanden sie. Und cool, das wollte ich auch sein.
Steve Jobs als Vorreiter
Den globalen Trend beförderte auch ein Fotoshooting mit Kate Moss, die 1990 für das Magazin «The Face» zu Jeans und Top in Birkenstocks posierte. Apple-Mitgründer Steve Jobs machte die Arizona-Sandale bereits in den 80ern zu einem Teil seines Looks. Im vergangenen Jahr wurde sein ausgelatschtes Paar für gut 200'000 Franken versteigert.
2003 brachte das deutsche Model Heidi Klum ihr eigenes Modell mit Nieten und Jeansstoff heraus. Dior versah die Pantolette aus schwarzem Nubukleder endgültig mit einer grossen Portion Glamour.
«Als Highfashion-Marken Birkenstock entdeckten und auf die Laufstege brachten, provozierten sie damit und setzten ein Statement gegen all die High Heels», sagt Trendforscherin Stetter, die den Masterstudiengang Trends & Identity an der Zürcher Hochschule der Künste leitet. «Birkenstock hatte Glück, dass ihre als «unstylisch» bewerteten Schuhe zum Style erhoben wurden.»
Gleichzeitig gehe das Traditionsunternehmen mit Sitz in Linz am Rhein, dessen Familienchronik sich bis ins Jahr 1774 zurückverfolgen lässt, sehr strategisch vor: «Es ist clever genug, mit dem Flow zu gehen und immer neue, an Mikrotrends angepasste Modelle herauszugeben.»
Symbolhafte Schlappen
Egal, ob die Sandale aus flexiblem Gummi, weichem Wildleder, geruchsneutralem Kunststoff oder mit Neon-Lack geschmückt ist – das Fussbett aus Jute, Kork und Latex bliebt stets gleich. Es ist dem Barfusslaufen im Sand nachempfunden. «Naturgewolltes Gehen im Trittspursystem» nannte Carl Birkenstock das schon 1947. Ein Gesundheitsschuh eben. Und der boomt.
«Der Megatrend Gesundheit ist in alle Lebensbereiche eingedrungen und hat ganze Lebensstile definiert», erklärt Stetter. Birkenstock sei «Ausdruck und Symbol für ein gesundes, achtsames Leben.» Doch wie gesund ist dieses viel gelobte Fussbett eigentlich? Können Birkenstock-Schuhe auch einen geschädigten Fuss korrigieren?
«Nur teilweise», erklärt Norman Espiosa, Arzt der Fuss- und Sprunggelenkchirurgie. «Der erste Effekt eines Birkenstock-Schuhs ist sicher das Wohlbefinden. Stellt sich dieses schnell ein, kann davon ausgegangen werden, dass der Schuh sehr gut ist.»
Fehlstellungen oder Schmerzen liessen sich jedoch nicht unbedingt lindern. Trotzdem könne man von einem guten orthopädischen Schuh sprechen, denn «der liefert das Gefühl von Komfort und Sicherheit», meint Espiosa, der Partner im Fussinstitut Zürich ist.
Hype um Hässliches
Doch es scheint, dass hinter dem Trend noch mehr steckt als nur das Gesundheitsthema. Vielleicht ist es gerade ihre Hässlichkeit, die den Coolheitsfaktor der Birkenstock-Sandalen ausmachen – ähnlich wie bei den Crocs, die in den 2000ern plötzlich zum Trend wurden.
Im schnelllebigen Zeitalter, das von Klicks und ununterbrochenen Inhalten lebt, macht sich bei vielen Menschen eine Sehnsucht zur Einfachheit breit: normal sein und Alltag leben. Und dafür stehen vermeintlich hässliche, aber bequeme Schuhe wie die Birkenstock-Sandalen. Das nimmt auch der neue «Barbie»-Film von Regisseurin Greta Gerwig auf.
Mit dem Satz «You can know the truth about the universe» wird Barbie im Film vor eine Entscheidung gestellt. Während eine braune Birkenstock-Sandale die Wahrheit über das Universum symbolisiert, steht ein rosa Stöckelschuh für den Barbie-Kosmos.
Ein Ausbrechen also aus der glitzernden, normschönen Welt, hinein in ein menschgewordenes Abenteuer: Barbie mit Plattfüssen. Birkenstock und seine Konkurrenz stehen für Authentizität, für einen bewussten Lebensstil und für eine Alternativkultur, die gerade ihren Weg in den Mainstream findet.
Quo vadis Birkenstock?
Dabei versuchte das Familienimperium Birkenstock selbst lange, den Glanz des erfolgreichen Traditionsunternehmens aufrechtzuerhalten. Das Bild bröckelte bereits, als Karl Birkenstock in den 90er-Jahren Betriebsräte als Aussätzige betitelte oder als die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen im Unternehmen öffentlich wurde.
Schliesslich beging der Patriarch den Fehler, das Erbe ungleich zwischen seinen drei Söhnen aufzuteilen, die sich zerstritten. Im Jahr 2013 vereinte Oliver Reichert, heutiger Geschäftsführer, schliesslich 38 Einzelunternehmen zur Birkenstock Group. Erstmals kam ein Führungsteam nicht aus der Familiendynastie.
Seit 2021 ist die Beteiligungsgesellschaft L. Catterton zusammen mit dem französischen Milliardär Bernard Arnault, der den Luxuskonzern LVMH kontrolliert, Mehrheitsgesellschafter bei Birkenstock. Arnault ist nach Schätzungen von Bloomberg einer der derzeit reichsten Menschen der Welt – mit einem Nettovermögen von rund 181 Milliarden Franken.
Endet damit die Kultmarke? Oder ist das der Beginn eines neuen Erfolgskapitels? Mit dem neuen Investor will Birkenstock in Asien expandieren. Die beliebte Marke könnte zu einer beliebigen werden. Ich für meine Fälle bin in diesem Sommer auf Crocs umgestiegen – und zwar mit Plateauabsatz.