Zeit ist ein knappes Gut: Unser Alltag ist gezeichnet von Deadlines, wir sind Meister im Jonglieren von Terminen. Vielleicht ist es gerade diese allumfassende Präzision und Taktung, die die aktuelle Renaissance der Psychedelika und anderer Formen des Rausches auslöst. Zu den Ekstasen der Gegenwart zählen mitunter das wiederentdeckte LSD oder ganz drogenfrei: Schwitzhütten.
Der Journalist Benedikt Sarreiter hat gerade eine Geschichte der Menschheit anhand ihrer «entrückten», also bewusstseinsveränderten Zustände geschrieben. Zusammen mit Paul-Philipp Hanske geht er der Frage nach, woher diese neue Lust an der Ekstase komme.
Ihre These: Ekstasen waren immer auch Strategien der Krisenbewältigung. Sie können zu mystischen und spirituellen Erfahrungen führen, lösen Gefühle wie Verbundenheit mit der Welt und dem Göttlichen aus und erlösen uns für einen Moment von der Last des Ich-Seins. Dazu schenken sie uns auch ein ganz anderes Zeitgefühl, eine Zeitvergessenheit.
Comeback des Halluzinogens
Auf Netflix zeigt sich das Streben nach Entgrenzung in Dokumentarserien wie «How To Change Your Mind». Dort wird die breite Masse über die Geschichte und medizinischen Vorzüge bewusstseinserweiternder Drogen wie LSD, Psilocybin (auch bekannt als «Magic Mushrooms»), MDMA und Meskalin informiert. Sie basiert auf dem gleichnamigen Buch des Bestsellerautors Michael Pollan.
Seine Beweggründe für die Serienadaption formuliert der Streaming-Anbieter im Pressetext wie folgt: Wir wollen «das heilende Potenzial dieser Substanzen erkunden», das «sowohl Geist als auch Kultur» zu verändern vermag.
Der überschwängliche Ton zeugt von einem Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Thema Drogen – gerade in Amerika, wo die Serie produziert wurde. Mitte der 1960er-Jahre wurde die Forschung mit Psychedelika und damit auch mit LSD verboten. Später rief Präsident Nixon gar einen «War on Drugs» aus. Aus der Wunderdroge wurde eine Satansdroge.
Mit LSD gegen Depressionen?
Erst in den 2000er-Jahren fand eine partielle Rehabilitierung statt, die Forschung wurde zögerlich wieder aufgenommen, auch in der Schweiz.
Das hat in den vergangenen Monaten wiederholt zu Schlagzeilen geführt, denn durch den kontrollierten Einsatz psychoaktiver Drogen erhofft man sich derzeit neue Erfolge bei der Behandlung psychischer Erkrankungen, wie Depressionen oder posttraumatischer Belastungsstörungen. Aufgrund der mit dem Konsum verbundenen Risiken ist LSD jedoch (sowohl in den USA als auch in der Schweiz) weiterhin illegal.
In der Netflix-Doku lernt man auch Felix Scholkmann kennen. Er ist Teilnehmer einer Studie am Unispital Basel. In der zweiten Session auf LSD fühlte er sich wie damals, in der Gebärmutter seiner Mutter. So als würde er ein zweites Mal die vorgeburtlichen Komplikationen durchleben.
Psychedelik ist heute nicht mehr nur das Ding einer eingeschworenen Gemeinschaft, sondern auf mysteriöse Weise prominent geworden.
Dass er sich auf diese Weise mit vergangenen Traumata konfrontieren könne, sei ein Geschenk, sagt Scholkmann. Man ahnt bereits, dass solche Studien als «Rammbock der Enttabuisierung» von Psychedelika dienen können, so Sarreiter.
Lizenz zum Trippen
In der Schweiz gibt es inzwischen sogar eine weltweit einmalige Lizenz zum Drogentrip: Die Psychedelika-Psychotherapie, bewilligt vom Bundesamt für Gesundheit (BAG). Knapp 40 Psychiater haben aufgrund einer Ausnahmeregelung vom Bundesamt für Gesundheit die Erlaubnis, ausgewählte Patientinnen und Patienten mit Psychedelika zu therapieren. Gregor Hasler ist einer der Therapeuten.
Hasler, der den klassischen Psychedelika lange selbst skeptisch gegenüberstand, hat nun ein Buch über seine eindrücklichen Therapieerfahrungen und Selbstversuche mit LSD und Co. geschrieben. «Hautnah erfuhr ich, dass LSD das Potenzial hat, das Denken bei einer depressiven Hemmung zu verbessern oder gar zu normalisieren», resümiert er darin seine Beobachtungen bei Patienten.
Grosses Interesse an substanzunterstützter Therapie
Entsprechend gross sei auch der Andrang für Therapieplätze und das, obwohl es bis jetzt keine abschliessenden empirischen Belege dazu gibt. Allerdings seien Psychedelika ohnehin nicht für alle Patienten geeignet. So kann der LSD-Trip auch Angstzustände oder Wahnvorstellungen auslösen und ist für akute Notlagen ungeeignet. Psychedelika würden primär eingesetzt, wenn die herkömmliche Psychotherapie festgefahren sei, so Hasler. Die Vergabe ist entsprechend restriktiv und kontrolliert.
Schlechte Nachrichten also für alle, die jetzt auf eine Hippie-Renaissance gehofft hatten und sich zur Selbsterkenntnis trippen wollten. Dennoch zeigt sich: «Psychedelik ist heute nicht mehr nur das Ding einer eingeschworenen Gemeinschaft, sondern auf mysteriöse Weise prominent geworden», so Sarreiter.
Ekstatische Gesellschaft
Der Trend zur Ekstase fiel Sarreiter und Hanske aber weit weg vom klinischen Kontext auf: «Das Überraschende ist, dass wir Ekstasen nicht nur beim Rave oder bei schamanistischen Ritualen, sondern auch in Yogaklassen und Achtsamkeitsseminaren oder in Massenbewegungen begegnen», erklären sie in ihrem Buch.
Der Rausch und die Ekstase seien gar zu einem Tool, einer Art Universalwerkzeug geworden, das an Probleme der Gegenwart angelegt würde, um sie so individuell zu bearbeiten: «Den Zusammenbruch der grossen Zukunftserzählungen, ökologische und soziale Angst, den so wahrgenommenen Verlust von Sinn und Perspektiven» etwa. Mit Ekstase gegen den Weltuntergang sozusagen.
Sehnsucht nach Ich-Auflösung
Sind Ekstasen also einfach eine Bewältigungsstrategie?
Nein, das Bedürfnis nach Ich-Auflösung sei laut Sarreiter und Hanske ein zutiefst menschliches, existenzielles. Seit einigen Jahren boomen auch verschiedenste Formen von Spiritualität. Sie verbinde, dass über unterschiedliche Methoden – ob mit Drogen, meditativen Techniken oder Ritualen – «Kontakt mit einer anderen Seite aufgenommen wird, mit einer Sphäre der Transzendenz».
Schwitzhütte: Neugeburt in der Natur
Verbindung aufnehmen. Mit sich selbst. Mit der Natur. All das verspricht auch der Besuch einer sogenannten Schwitzhütte. Schwitzhütten-Rituale waren bei indigenen Völkern Nordamerikas stark verbreitet, besonders bei den Lakota. Aber auch in anderen Kulturkreisen gab es sie, etwa in Irland.
Auch in der Schweiz kann man an solchen Schwitzhütte-Ritualen teilnehmen. Das Angebot dafür ist gross, hat mit seiner Verwendung bei den Lakota aber nur noch wenig gemein. Im Emmental, unweit von Thun, setzte sich der Philosoph und SRF-Moderator Yves Bossart diesem Selbstexperiment aus.
Selbst- und Naturerfahrung
Eine Schwitzhütte wird zunächst gemeinsam aufgebaut: Wolldecken werden über ein bereits bestehendes Gerüst aus Ästen gelegt, sodass eine kleine Iglu-Sauna entsteht. Geschwitzt wird aber erst, nachdem man sich auf das kommende Erlebnis eingestimmt hat.
«Zunächst wurden alle Teilnehmenden gebeten, Zeit mit sich selbst zu verbringen, in den Wald zu gehen und den Geräuschen des Baches zu lauschen, die Rinde eines Baumes zu berühren, in sich zu gehen», erzählt Bossart.
Schwitzen bis zur Selbsterkenntnis
Angeleitet werden solche Schwitzhütten von erfahrenen Ritualbegleitern. In diesem Fall war das Brigitte Käsermann, die sich als «Visionssucheleiterin» bezeichnet und ursprünglich ausgebildete Physiotherapeutin ist.
Im Unterscheid zu einer Sauna sei die Schwitzhütte sehr «ritualisiert», erklärt Käsermann – alles folge einem festen Ablauf und diene letztlich der inneren Reinigung und Wandlung .
Durch die Hitze, die Rituale und die Beschäftigung mit sich selbst könne es zu quasi-mystischen Momenten kommen, zu einem «Gefühl der All-Einheit», des Verbundenseins mit der Natur, erzählt die Leiterin.
In Harmonie mit den Himmelsrichtungen
Diese Verbundenheit mit einem grösseren Ganzen wird auch rituell bekräftigt: So werden etwa alle Himmelsrichtungen «eingeladen», an dem Ritual teilzunehmen, auch Erde und Himmel sowie alle Tiere und Pflanzen der Umgebung – mitsamt den Ahnen.
«Hier kam mein wissenschaftliches Weltbild arg an seine Grenzen», meint Bossart lakonisch. Bevor sich die Schweissporen öffnen, muss allerdings erst Feuer gemacht werden. Mitten in das Feuerholz werden handtellergrosse Steine gelegt, knapp 40 Stück.
Ritualisiertes Saunieren
Durch die Hitze beginnen die Steine tiefrot zu glühen. Anschliessend wird jeder einzelne von einer sogenannten «Feuerfrau» mit einer Mistgabel aus dem Feuer geholt und in die Mitte der Schwitzhütte gelegt, wo die Teilnehmenden bereits nackt oder halbnackt auf Holzstroh weilen.
Mit zunehmender Schweissabsonderung fühlte sich der Satz ‹alles ist mit mir verwandt› plausibler an.
«Dieser Moment hat etwas Magisches», meint Bossart: «Die komplette Dunkelheit der Hütte wird nur durch das Funkeln der Steine durchbrochen. Die Hitze steigt und der Duft der Kräuter, die auf die heissen Steine gelegt werden, verbreitet sich. Sweet-Grass, Salbei, Weihrauch, Lavendel.»
Oma und Opa Stein
Sobald ein neuer Stein in die Hütte gelangt, wird er mit dem Satz «Aho Mitkuye Oyasin» empfangen – was in der Sprache der Lakota so viel bedeutet wie «Alles ist mit mir verwandt». Anschliessend wird er mit Wasser begossen. Die Hütte erwärmt sich weiter, die Luft wird feuchter.
Währenddessen werden Bilder, Gedanken und Emotionen wachgerufen, Lieder gesungen, an schöne Momente der Kindheit erinnert: Wie habe ich mich damals gefühlt? Wie war ich? Gegen Schluss kommen gar Trommeln dazu.
«Es war eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens und mit zunehmender Schweissabsonderung fühlte sich der Satz ‹alles ist mit mir verwandt› plausibler an», erzählt Bossart.
Mit Badehose aus der Gebärmutter
Das Ritual in der Hütte dauert zwei Stunden. «Zum Schluss ist man halb in Trance und völlig verschwitzt, aber auch befreit und verwandelt.» Draussen ist es bereits dunkel, es wartet der Schnee, der Mond am Himmel und das Feuer.
Es fühle sich ein bisschen wie eine Neugeburt an, «quasi wie mit der Badehose aus der Gebärmutter», resümiert Bossart. «Schön fand ich vor allem, dass sich dieser gelöste Zustand, dieses ‹Weichwerden des Ichs›, mitten in der Natur einstellt. Dadurch fühlt man sich tatsächlich als Teil der Natur. Man sieht den Mond und möchte rufen: Hallo, alter Freund.»
Zerflossene Grenzen des Menschseins
Es zeigt sich: In der Ekstase – ob nun in der Schwitzhütte oder im Club – herrscht Einheit. Die Kluft zwischen dem Menschen und seiner Umgebung wird überwunden, oder wie Sarreiter und Hanske schreiben: «Der Panzer des Egos fällt ab, die Grenzen zerfliessen, es wird eine Verbindung hergestellt.» Doch wir wissen: Jede Harmonie ist brüchig.
Aber vielleicht ist gerade die ekstatische Einsicht des «How To Change Your Mind»-Schöpfers Michael Pollan jener Leim, der die stets auseinanderstrebenden Elemente eines Menschenlebens lose zusammenhalten kann: «Der Geist ist grösser und die Welt viel lebendiger, als ich anfangs wusste.»