Als Schriftstellerin und Literaturagentin ist Christine Koschmieder in der Literaturbranche bekannt. Bislang nicht bekannt war ihre Alkoholsucht. Diese konnte sie jahrzehntelang geheim halten.
Jetzt traut sich Christine Koschmieder damit an die Öffentlichkeit. Ihr neuer Roman heisst «Dry», wie das englische Wort für «trocken». Trocken ist Koschmieder mittlerweile seit zwei Jahren.
Aufwachsen mit Alkoholiker-Eltern
Die ersten Kapitel von «Dry» hat Koschmieder in der Suchtklinik geschrieben. Der Aufenthalt dort hat bei ihr einen Reflexionsprozess über ihr Leben in Gang gesetzt – und zu der Erkenntnis geführt: Es gibt nicht den einen Grund, der sie in die Sucht getrieben hat, sondern mehrere.
Christine Koschmieder, 1972 in Heidelberg geboren, wächst bei alkoholkranken Eltern auf. Ihre Mutter und ihren Vater sieht sie von klein auf immer wieder betrunken. Nicht selten kommt es vor, dass das, was ihr die Eltern am Abend unter Alkoholeinfluss sagen oder versprechen, schon am nächsten Morgen keine Gültigkeit mehr besitzt.
Ein behütetes Aufwachsen sieht anders aus. Zumal Christine Koschmieders Verhältnis zur eigenen Mutter von zermürbenden Konflikten geprägt ist. Später wird sie den Kontakt zu ihr abbrechen.
Die Trauer betäuben
Ein weiterer Schicksalsschlag im jungen Erwachsenenalter: Christine Koschmieders Ehemann erkrankt an Krebs. Sie kümmert sich um die Kinder, arbeitet – und pflegt ihren Mann, der immer dünner und schwächer wird. Mit Anfang 30 stirbt er. Christine Koschmieder unterdrückt die Trauer.
Stattdessen zieht sie drei Kinder gross, gründet eine Literaturagentur, schreibt Romane, übersetzt, arbeitet als Fundraiserin für verschiedene Organisationen. Sie kümmert sich um alle und alles. Kurz: Sie funktioniert.
Aber abends braucht sie eine Flasche Wein, mindestens. Sie hat keine Zeit, sich auch noch um ihre Gefühle zu kümmern. Deshalb sehnt sie sich nach der schnellen, zuverlässigen Betäubung – mit Alkohol.
Frauen trinken heute mehr
«Frauen trinken immer mehr – schweizweit, aber auch weltweit», erklärt Ruth Kinzy, Therapeutin an der Forel-Suchtklinik in Zürich. Bislang hätten die Männer mit ihrem Alkoholkonsum immer deutlich vorne gelegen. In den vergangenen Jahren jedoch hätten die Frauen aufgeholt.
Eine Ursache dafür sieht Kinzy – so überraschend das klingt – in der Emanzipation der Frauen: «Zunächst einmal ist das ein Zeichen von mehr Gleichstellung. Frauen dürfen mehr trinken. Sie dürfen sich genauso in der Öffentlichkeit mit Alkohol zeigen wie Männer, ohne sich schämen zu müssen.»
Eine andere Ursache sei das Marketing der Getränkehersteller: «Mit speziellen Kampagnen und Produkten versuchen sie, gezielt Frauen anzusprechen», so Kinzy.
Der Versuch, schnell abzuschalten
Die Tendenz zum Mehr-Trinken fällt vor allem bei gut ausgebildeten Frauen über 30 auf. Hier sieht die Suchttherapeutin Kinzy, neben Emanzipation und Marketing, gesellschaftliche Missstände als Ursache: Stress, Druck, Versagensängste.
Gerade Frauen über 30 seien oft berufstätig, wollten etwas erreichen, gleichzeitig hätten sie Familie. Sie versuchten, alles unter einen Hut zu kriegen und allen Anforderungen gerecht zu werden.
«Immer mehr Aufgaben bei gleichbleibender Zeit. Bei manchen Frauen schleicht sich dann der Alkohol in den Alltag», sagt Kinzy. Das Trinken sei wie ein Lösungsversuch, um schnell abzuschalten. «Ein Lösungsversuch, der auf Dauer natürlich nicht funktioniert.»
Selbsthass nach dem Trinken
Wenn Christine Koschmieder am Abend wieder eine Flasche Wein – oder mehr – getrunken hat, wacht sie am nächsten Morgen voller Selbsthass auf. Sie fühlt sich elend, weil sie es wieder nicht geschafft hat, auf Alkohol zu verzichten. Dieses schlechte Gefühl wiederum will sie möglichst schnell loswerden. Das Mittel dazu: Trinken. Ein klassischer Teufelskreis.
Trotz des Trinkens steht Koschmieder jahrelang jeden Morgen um sechs Uhr auf und macht ihre Kinder schulfertig. Sie schmiert Pausenbrote, sie backt Pizza am Kindergeburtstag, sie besucht Elternabende.
Der Weg aus der Sucht
Auch beruflich fällt ihre Sucht niemandem auf. Keine peinlichen, torkelnden, lallenden, ausfälligen Auftritte. Sie schafft es, zu funktionieren. Bis sie irgendwann merkt, dass sie wirklich nicht mehr kann.
Als ihr eine Suchtberaterin vorschlägt, für drei Monate in eine Entzugsklinik zu gehen, ist Koschmieder regelrecht erleichtert. Endlich sieht sie einen Weg, ihre Erkrankung anzugehen. Seither arbeitet Koschmieder ihre Vergangenheit auf und übt sich darin, ihre Gefühle, so schmerzhaft sie mitunter sind, anzunehmen und auszuhalten. Ganz ohne Wein.