Die Welt der 1990er-Jahre scheint zuerst grenzenlos, doch bald tun sich erste Risse auf. Der Autor Jens Balzer führt in acht Wendungen durch das Jahrzehnt.
1. Das Ende des Kalten Kriegs
Die 90er-Jahre beginnen am 9. November 1989. In Berlin fällt die Mauer, die Grenzen zwischen Ost- und Westdeutschland werden geöffnet. Der Kalte Krieg ist zu Ende. «Freiheit!» Das ist ein Gefühl, das nun viele Menschen ergreift. Sie sind plötzlich frei zu reisen, wohin sie wollen. Sie glauben, dass die Diktaturen in der DDR und in Osteuropa dauerhaft durch echte Demokratien ersetzt werden.
Die UdSSR entlässt die Staaten des Warschauer Pakts aus ihrer autoritären Herrschaft. Michail Gorbatschow und die westlichen Staatenlenker verkünden einen neuen Geist der internationalen Zusammenarbeit.
Der US-Politologe Francis Fukuyama verkündet in einer viel gelesenen Schrift das «Ende der Geschichte». Auf der ganzen Welt habe die kapitalistische Konsumgesellschaft gesiegt und mit ihr die Idee des politischen Liberalismus.
Kurz scheint es, als gehe die Welt einer Epoche des ewigen Friedens entgegen. Doch auf den ersten Rausch folgt bald der Kater. In Deutschland etwa kollabiert die Wirtschaft der DDR. Als Ost- und Westdeutschland am 3. Oktober 1990 wiedervereinigt werden, sehen viele Ostdeutsche einer ungewissen Zukunft entgegen. Viele Westdeutsche fragen sich, wann die «armen Verwandten» wieder nach Hause gehen. So ist die Saat kommender Konflikte schon zu Beginn der 90er-Jahre gesät.
2. Der Aufstieg des Technos
Das grosse Bum Bum Bum: Techno wird zum Soundtrack der Wiedervereinigung und der frühen 90er-Jahre. Zuerst in Berlin: Gleich nach dem Mauerfall strömen Scharen von Menschen durch den Ostteil der Stadt, sie finden leerstehende Häuser, Fabriken, Bunker in Hülle und Fülle. Lauter Orte, die man einfach so in Besitz nehmen kann, um eine Bar oder einen Club einzurichten.
Zu lauter, minimalistischer Maschinenmusik finden Ost- und Westdeutsche zueinander, aber auch viele, die aus anderen Städten und Ländern nach Berlin kommen, um dort die Zeit einer scheinbar unbeschränkten Freiheit zu feiern. Diese Zeit dauert nicht lange, die offenen Räume schliessen wieder.
Zum Grossereignis der Technoszene wird die Loveparade: kommerziell, von Konzernen gesponsert, von Privatfernsehsendern gefilmt. Mitte der 90er tanzen schon eine Million schrill gekleideter Menschen durch Berlin. Die Hitparaden-Version von Techno, der Eurodance, wird zur prägenden Musik der mittleren 90er, dank Bands wie 2 Unlimited und Snap!.
Viele Pioniere der Szene wenden sich ab, manche wandern mit ihren mobilen Soundsystems weiter nach Osten: Für die osteuropäische Jugend wird Techno zum Sound der Verheissungen des Westens und der Freiheit. Eins der grössten Open-Air-Rave-Festivals des Jahrzehnts findet jährlich auf der Krim statt, in der 1991 unabhängig gewordenen Ukraine. Es wird mit Unterbrechungen bis zur russischen Annexion der Krim ein Vierteljahrhundert später fortgeführt.
3. Eine Welle rassistischer Gewalt
«In der Fernsehsendung die Wiedervereinigung. Anfangs hab ich mich gefreut, doch schnell hab ich’s bereut. Denn noch nie seit ich denken kann, war's so schlimm wie heut»: So rappen Advanced Chemistry, eine der ersten deutschsprachigen Hip-Hop-Crews, 1992 in ihrem Lied «Fremd im eigenen Land».
So wie ihnen geht es vielen Deutschen mit Migrationsbiografie: Sie erleben das wiedervereinigte Deutschland nicht als Ort einer neuen Freiheit, sondern als Ort neuer Diskriminierungen – und neuer Angst. Anfang der 90er kommt es zur grössten Welle rassistischer Gewalt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Vor allem im Osten, aber nicht nur dort, tun sich Neonazis zusammen, um «national befreite Zonen» zu erzwingen. Sie greifen nicht-weisse Menschen an, über hundert werden im Verlauf des Jahrzehnts ermordet. Westdeutsche Medien wie der «Spiegel» und die «Bild» heizen mit reisserischen Geschichten über die «Asylantenflut» die Stimmung an.
Die grössten, symbolisch gewordenen Ausschreitungen finden 1992 in Rostock-Lichtenhagen statt. Tagelang belagert ein rechter Mob einen Plattenbau, in dem Asylbewerber und vietnamesische Vertragsarbeiter wohnen. Unbehindert von der örtlichen Polizei werfen sie Brandsätze und hindern die Feuerwehr am Löschen.
Im folgenden Jahr verüben Neonazis einen Brandanschlag auf ein Haus im nordrhein-westfälischen Solingen, das von türkeistämmigen Familien bewohnt wird. Fünf Menschen sterben, 17 werden schwer verletzt.
4. Tätowierungen und Brust-OPs
Würde man heute eine Zeitreise zu einem heissen Sommertag des Jahres 1990 unternehmen, fiele einem vor allem eines auf: Von all den leicht bekleideten Menschen ist niemand tätowiert. Bis Anfang der 90er sind Tätowierungen meist Männern am Rand der Gesellschaft vorbehalten: Seeleuten, Häftlingen, Angehörigen von Motorradclubs – und einigen Extremkünstlern aus der Szene der Industrial-Musik und Performance-Kultur.
Aus dieser Szene drängen Tätowierungen plötzlich in die Mitte der Gesellschaft. Viele Männer wollen sich nun ein ornamentales Tribal-Tattoo stechen lassen. Mitte der 90er beginnen Frauen damit, ihre Hüfte mit dem «Tramp Stamp» – dem «Arschgeweih» – verzieren zu lassen.
In den 80ern wollte man sich mit Kleidung, Habitus und Musikgeschmack bestimmten Subkulturen zuordnen, in den 90ern will jede und jeder ein einzigartiges Individuum sein. Immer mehr Menschen machen ihren Körper zum Ausdruck ihrer Individualität, und das heisst: zum gestaltbaren Material.
Darum sind die 90er auch das Jahrzehnt, in dem die Schönheitschirurgie in den Mainstream eindringt. Immer mehr Frauen lassen sich ihre Brüste vergrössern, ihre Lippen aufspritzen. Das berühmteste Sexsymbol der Dekade ist Pamela Anderson, die 1993 ihr Debüt in der «Baywatch»-Serie gibt: In ihrer Karriere, hat sie später gesagt, sei sie eigentlich immer nur ihren operierten Brüsten hinterher getrottet.
5. Das Handy: Plötzlich schreien alle
Die 90er sind nicht zuletzt die Zeit eines rasanten technologischen Wandels: die Urszene der Kommunikationsgesellschaft, die unser heutiges Leben prägt. Zu Beginn des Jahrzehnts telefonieren die Menschen meist noch mit Geräten, die mit Kabeln in der Wand verankert sind – neu mit Anrufbeantworter.
1992 werden in Deutschland und der Schweiz die ersten Mobilfunknetze geknüpft, und – wie man damals noch sagt – Hand- oder auch Funktelefone verbreiten sich unter Geschäftsleuten und wohlhabenden Menschen.
Von stilbewussten Zeitgenossen werden Funktelefonbenutzer noch verspottet: als peinliche alte weisse Männer, die ihren gesellschaftlichen Status demonstrieren, indem sie in der Öffentlichkeit wichtigtuerische Sätze in die mobile Sprechmuschel schreien. Es dauert nicht einmal ein halbes Jahrzehnt, bis sich diese Praxis in der gesamten Gesellschaft verbreitet. Jetzt schreien in der Öffentlichkeit alle.
Das erste «Handy» – wie man nun sagt –, das massenweise genutzt wird, ist das Nokia 8110. Mit ihm kann man nicht nur telefonieren, sondern auch Textnachrichten versenden, sogenannte SMS. Am Ende des Jahrzehnts sieht man überall – vor allem junge – Menschen, die auf ihren Tastaturen kurze Sätze tippen und mit «Emoticons» wie :-) oder :-( angeben, ob diese lustig oder traurig gemeint sind.
6. Das Internet und der grenzenlose Konsum
Die zweite technologische Neuerung in diesem Jahrzehnt ist das Internet. In den 80ern haben sich Personal Computer allmählich in der Gesellschaft verbreitet. In den 90ern setzt sich der Gedanke durch, dass man diese Computer miteinander «vernetzen» kann.
1991 stellt der Physiker Tim Berners-Lee sein «WorldWideWeb-Project» vor, mit dem man auf einfache Weise Daten, Nachrichten und Dokumente zwischen Computern austauschen kann.
Informatiker und Technikphilosophen glauben, dass mit dem Internet nun wahrhaft eine Welt ohne Grenzen entsteht: Wenn alle ihr Wissen teilen und sich miteinander austauschen können, dann könne dies nur zu universeller Harmonie führen. Es dauert nicht einmal drei Jahre, bis sich zeigt, dass diese neue Freiheit nur die Freiheit des Konsumierens ist.
Aus den freiheitlich-anarchischen Anfängen entwickelt sich eine «New Economy» mit Start-ups wie der Suchmaschine Google, die 1998 auf den Markt kommt. Im selben Jahr erhält der Programmierer Lou Montulli das Patent für seine Erfindung des «Cookie»: Damit lässt sich präzise nachverfolgen, wonach die Menschen im Internet suchen und was sie dort sonst so tun.
Was mit der Utopie der digitalen Vernetzung beginnt, endet mit der technischen Begründung für das, was wir heute als Überwachung im Internet erleben.
7. Der Höhepunkt und das Ende der Postmoderne
Alles lässt sich miteinander vernetzen. Diese Idee findet sich nicht nur bei den Pionieren des Internets, sondern auch in der Popkultur der 90er-Jahre. Zum Beispiel in der Mode: Junge Männer und Frauen beginnen damit, sich «ironisch» zu kleiden und zu frisieren.
Die Männer lassen sich jene Schnurrbärte und Koteletten stehen, die sie an ihren Vätern bis dahin immer uncool fanden. Junge Frauen kombinieren die Plateaustiefel ihrer Mütter aus den 70ern mit Babydoll-Kleidern aus den 50ern und Kleinmädchenzöpfen wie von Pippi Langstrumpf. Diese Girlie-Ästhetik wird von Sängerinnen wie Marusha und Blümchen oder vom Spice-Girl Emma Bunton populär gemacht.
Auch die erfolgreichsten Serien und Filme des Jahrzehnts sind voller Zitate und Verweise: «Die Simpsons» zitieren Comics, Filme, Literatur aus der Popkultur, aber auch die Malerei Michelangelos und die «Odyssee» von Homer; nicht umsonst trägt der Familienvater der Simpsons diesen Namen.
Richard Linklater porträtiert in seinem Film «Slacker» eine Generation von ziellos herumhängenden Jugendlichen, die in ihren verpeilten Gesprächen alles miteinander in Beziehung setzen und daraus Verschwörungstheorien entwickeln. Damals noch ein unschuldiger Spass, heute – mit dem Wissen um die politischen Konsequenzen des Verschwörungstheoretikertums – bleibt einem das Lachen im Halse stecken.
8. Der politische Islam
Die 90er beginnen nicht nur mit dem Fall der Berliner Mauer, sondern auch mit der Fatwa gegen Salman Rushdie. 1989 bringt der britisch-indische Autor seinen Roman «Satanische Verse» heraus – auch dieser ein Spiel mit Zeichen, Zitaten, kulturellen Traditionen. Unter anderem wird die Lebensgeschichte des islamischen Propheten Mohammed in abgewandelter Form nacherzählt.
Islamische Fundamentalisten empfinden dies als Blasphemie: Der iranische Revolutionsführer Ayatollah Chomeini verhängt über Rushdie ein Todesurteil. In aller Welt verbrennen Muslime seine Bücher und machen Jagd auf ihn, seine Übersetzer und Verleger. Dutzende von Menschen kommen dabei ums Leben, Rushdie taucht ab und lebt jahrelang im Untergrund.
Mögen im Westen der Geist der Vernetzung, die Postmoderne und Ironie herrschen – so leitet der globale Siegeszug des politischen Islams gleichzeitig eine Rückkehr des religiösen Dogmatismus ein und des unerbittlichen Beharrens auf kultureller Identität.
In den 90ern eröffnet Osama bin Laden seinen Dschihad, seinen heiligen Krieg gegen den seiner Ansicht nach dekadenten, gott- und sittenlosen Westen. Dieser gipfelt in den Anschlägen vom 11. September 2001, mit dem das Jahrzehnt der 90er endet.
Zu seinem Beginn fällt eine Mauer, an seinem Ende fallen zwei Türme: die Twin Towers des New Yorker World Trade Centers. Damit beginnt eine neue Epoche, die nicht mehr vom Geist der Grenzenlosigkeit und der universellen Befreiung geprägt ist, sondern von neuen Konflikten, Grenzen, Identitäten und Kriegen.