Barbara Sterkman begrüsst ihre Gäste mit einem fröhlichen «Hello!» und bittet sie in ihr Kreativatelier in Frauenfeld. An den Wänden des kleinen Raumes im Parterre hängen Leinwände mit Blumenmotiven. Bunte Figuren aus Pappmaché und kleine Büsten aus Ton füllen die Regale.
In einer Vase stehen frische Blumen, neben der Kaffeemaschine liegen Kekse bereit. Barbara Sterkman legt ihren Gästen eine Hand auf die Schulter, fragt: «Wie hesch es?»
Kürbisse auf Modellierbock
Zwei Männer und sechs Frauen kommen an diesem Donnerstagnachmittag im November in ihr offenes Atelier. Die Jüngste der Gruppe ist 18 Jahre alt, die Älteste 93.
Auf einem Modellierbock arrangiert Barbara Sterkman drei Kürbisse mit Herbstblättern. Der energetischen Frau fällt dabei immer wieder eine Locke ins Gesicht. Das Kürbis-Arrangement ist ein Sujetvorschlag für heute Nachmittag.
Einige Teilnehmer greifen sofort zu Farbstiften und beugen sich konzentriert über das Papier. Andere überlegen etwas länger, entscheiden sich für ein anderes, persönlich gewähltes Motiv.
Kaum jemand kommt und sagt: «Ich bin einsam»
Barbara Sterkman arbeitet als Kunsttherapeutin. Das offene Atelier ist innerhalb des Tageswohnheimes das «Herzstück», wie sie es selber beschreibt.
«Kaum jemand kommt zu uns und sagt: ‹Ich bin einsam›», sagt Sterkman. Dafür ist Einsamkeit zu sehr mit Scham behaftet.
Vom Arzt empfohlen
Und doch betitelt Sterkman ihr Angebot auf ihrer Website so: «Mit Kunst und Kreativität gegen Einsamkeit und Depression». Sich kreativ in einer Gruppe auszudrücken könne gegen dieses Gefühl helfen, so Sterkman.
Nicht nur das Alter der Teilnehmerinnen ist sehr unterschiedlich. Auch der Grund, warum sie das offene Atelier besuchen. Manche bekamen das Angebot vom Arzt empfohlen, andere waren einfach auf der Suche nach einem Ort, wo sie malen und gestalten können.
Dieser Spannweite entspricht auch das offene Atelier: Es ist weder Kunsttherapie noch ein Kurs, um eine Maltechnik zu erlernen. Sondern irgendetwas dazwischen und doch ganz anders – und einzigartig in der Schweiz.
Ob sich die Teilnehmer alle einsam fühlen? Schwer zu beantworten. Aber einige der Gäste blicken auf eine schwierige Lebensgeschichte zurück.
Sie sind froh über Sterkmans Angebot. Es gibt ihnen wieder neuen Schwung. Und alle antworten mit einem energischen Ja auf die Frage, ob Kreativität gegen Einsamkeit helfen könne.
«Man kann beim Malen nur sich selber sein»
Barbara Sterkman erklärt: «Es geht um die Beziehung, die zu einem selber entsteht, wenn man kreativ ist. Man kann beim Malen nicht jemand anders sein als der, der man ist.»
Ausserdem komme man auch in eine Beziehung zu den Mitmenschen: «Sie geben eine Rückmeldung auf das Geschaffene. Das ist eine indirekte Rückmeldung auf einen selber», so Sterkman.
Wie gefährlich ist Einsamkeit?
2010 und 2015 sagten gross angelegte Studien aus, dass Einsamkeit gesundheitsgefährdend sei – angeblich schlimmer als Rauchen.
Besonders in Grossbritannien schlug man Alarm: Premierministerin Theresa May liess sich zitieren, dass jeder Fünfte des Landes von Einsamkeit betroffen sei – und rief Anfang Jahr ein «Ministerium für Einsamkeit» ins Leben.
Ab dem Jahr 2023 können Ärztinnen in Grossbritannien ihren Patienten statt Pillen Aktivitäten gegen Einsamkeit verschreiben: Kunstunterricht, Kochen und Tanzstunden.
Auffallend sind die vielen Kreativkurse, die aufgelistet sind. Ist Kreativität ein Wundermittel gegen Einsamkeit?
Die Situation in der Schweiz
In der Schweiz sieht es etwas anders aus. Laut Statistiken des Bundes ist die Wahrnehmung von Einsamkeit zwischen 1997 und 2012 im Allgemeinen stabil.
Und doch: Auch in der Schweiz fühlen sich Menschen alleine – und bereits heute erleichtern manche ihr Leiden, indem sie sich kreativ betätigen.
Barbara Sterkman hat das Radio angemacht. Xavier Naidoo singt aus den Boxen, während sie den Teilnehmerinnen über die Schultern schaut.
In den Malprozess greift sie nicht ein und interpretiert die Werke nicht. Aber sie animiert. «Richtig stolz bin ich auf dich», sagt sie zu einer Teilnehmerin.
An einem anderen Tisch malt eine junge Frau eine Landschaft mit zarten Farben. Kann ein Angebot wie dieses gegen Einsamkeit helfen?
«Alleine in einem Raum malen wäre schwierig», meint die junge Frau. «Aber hier sind Leute da. Man kann zusammen über das reden, was man macht.»
Ist es also das Zusammensein, das hilft? Anders gefragt: Könnte man für den gleichen Effekt auch einfach mit anderen wandern gehen?
Ja, solange man nicht nur über das Wetter spreche, sondern sich auf Gespräche mit anderen einlasse und das Wandern bewusst wahrnehme. Das sagt Psychotherapeut und Psychoanalytiker Peter Schwob.
Das wirklich Hilfreiche sei in diesem Moment bereits passiert: «Nämlich der Entschluss, etwas mit anderen Leuten zu machen.»
Einsamkeit definiert Schwob so: «Man verurteilt sich, zieht sich zurück, erinnert sich an erlebte Abneigung und vermeidet neue mögliche Ablehnungen.» Und natürlich gibt es auch äussere Einflüsse, etwa wenn ein Mensch seinen Partner verloren hat, sich verlassen fühlt oder durch andere Ereignisse aus der Bahn geworfen wurde.
Dem einsamen Ich ein neues Ich gegenüberstellen
«Der Knackpunkt ist es, wie man wieder zu einem Ich-Sein kommt – nicht nur durch das Denken, sondern das Gefühl ‹Ja, das bin ich!›», so Schwob. Damit der eigene Ausdruck auch ein anderer als die Einsamkeit sein kann.
Genau dieses Gefühl könne tatsächlich besonders stark bei einer kreativen Betätigung aufkommen, räumt Schwob ein: «Beim Kreativen ist es leichter und zwingender, wirklich darin zu leben.»
Hauptsache, der erste Schritt wird getan
Am Ende hänge die Wahl der Betätigung von den persönlichen Vorlieben ab. Hauptsache, man wage den ersten Schritt.
Im offenen Atelier in Frauenfeld wird geschäkert und gelacht. Langsam verschwindet das Tageslicht. Noch immer waschen die Teilnehmer ihre Pinsel aus, tunken sie in neue Farbe und setzen sie zum Malen an.
Ganz hinten im Raum sitzt Maria, eine sorgfältig geschminkte Frau mit blonden Haaren. Sie malt ein Herz, umfährt es mit Weiss, dann mit Grün, dann mit Blau und immer mehr Farben, bis das Herz den Rand der Leinwand berührt.
Maria sagt: «Das Herz wird grösser und wächst. Das ist auch im Leben so. Alles wächst.»