Grau liegt der Herbsthimmel über einer namenlosen Stadt im Schweizer Mittelland. Im Café eines modernen Glasgebäudes sitzt Nadine Löhr. Eine Frau in ihren späten Vierzigern, mit roter Lederjacke und kurzem Haar.
Sie ist hier, weil sie offen darüber sprechen möchte, worüber die meisten schweigen: über ihre Einsamkeit. Das unter der Bedingung, dass ihr wahrer Name unerwähnt bleibt.
Nadine Löhr bestellt sich einen Cappuccino und beginnt zu erzählen. Von der verzweifelten Suche nach einer Freundin, den Selbstzweifeln und einer erleichternden Erkenntnis.
Eine soziale Niederlage
Auf den ersten Blick wirkt Nadine Löhr wie eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Sie arbeitet als Filialleiterin in einem Einrichtungsgeschäft und lebt in einer Partnerschaft. Was ihr fehlt, ist ein soziales Umfeld. «Ich habe keine einzige Freundin», sagt sie und klingt, als würde sie eine Niederlage eingestehen.
Sie brauche kein riesiges Netzwerk, sagt sie. «Ich wünsche mir jemanden, mit dem ich mal Frauengespräche führen, schwimmen oder ins Kino gehen kann.» Doch ihre Suche blieb erfolglos, der Druck in der Arbeit nahm zu. Löhr geriet in eine Abwärtsspirale. Bis sie vor fünf Monaten an einem Burn-out erkrankte.
Eine unerkannte Krankheit
Einsamkeit galt lange Zeit als Privatsache. Doch seit einigen Monaten steht dieses jahrtausendealte und mit Scham behaftete Gefühl inmitten des öffentlichen Scheinwerferlichts.
Für die Initialzündung dieser Entwicklung sorgte die britische Premierministerin Theresa May. Eine Studie hatte gezeigt, dass jeder fünfte Bürger Grossbritanniens unter Einsamkeit leidet. Als Reaktion darauf ernannte May eine Ministerin für Einsamkeit und sorgte damit weltweit für Schlagzeilen. Die Politik hatte das Thema für sich entdeckt.
Gefährlicher als Rauchen?
Nur wenige Wochen später veröffentlichte der deutsche Psychiater Manfred Spitzer ein vielbeachtetes, aber in der Fachwelt umstrittenes Buch mit dem Titel «Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit». Von einer Epidemie ist seither die Rede, einer gefährlichen Krankheit, so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag.
Die Erkenntnis hat sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt: Einsamkeit schadet nicht nur dem Geist, sondern auch dem Körper. Und Politik, Medien und Wissenschaft rätseln darüber, was die Neuentdeckung dieses Gefühls über unsere Zeit aussagt.
Zunahme umstritten
Es ist unklar, ob die Einsamkeit in unseren Gesellschaften zunimmt. Verlässliche historische Daten gibt es keine – weder in Grossbritannien noch anderswo. Dafür ist das wissenschaftliche Interesse an dem Phänomen noch zu neu.
In der Schweiz fühlt sich rund ein Drittel aller Menschen manchmal einsam. Knapp fünf Prozent leiden häufig oder sehr häufig unter Einsamkeitsgefühlen. Das ergab eine Untersuchung durch das Schweizerische Gesundheitsobservatorium im Jahr 2012.
Frauen und wenig Gebildete
Besonders häufig von Einsamkeit betroffen sind Frauen und Personen mit tiefem Bildungsniveau. Im Vergleich mit den Erhebungen der vergangenen 15 Jahre ist für die Schweiz keine signifikante Zunahme feststellbar.
Gemäss den jüngsten Publikationen waren im Jahr 2007 etwa gleich viele Menschen von Einsamkeit betroffen wie bei der ersten Erhebung im Jahr 1997. Die nächste Publikation wird im kommenden Jahr erwartet.
«Alles drehte sich um Leistung»
In das Leben von Nadine Löhr bahnte sich die Einsamkeit ihren Weg still und schleichend. Löhr ist in Deutschland aufgewachsen und kam vor 14 Jahren mit ihrem damaligen Partner aus beruflichen Gründen in die Schweiz. «Ich war lange Zeit der Ansicht, der Job sei das wichtigste in meinem Leben. Alles drehte sich um Leistung.»
In Deutschland liess sie ihr grosses soziales Umfeld zurück. Ihre Schwester, ihre Eltern, ihren Sohn und alle ihre Freunde. In der Schweiz angekommen hatte sie zunächst Glück, wie sie sagt. Im selben Haus wohnte ein Paar, mit dem sie bald eine nahe Freundschaft verband. Vier Jahre später musste sie aufgrund der Arbeit den Wohnort wechseln.
Arbeiten bis am späten Abend
Von der belebten Stadt zog sie in die Agglomeration, wo sie bis heute keinen Anschluss fand. Ihr Partner lebt selber ein eher zurückgezogenes Leben. Ihre Mitarbeiterinnen sind fast alle zehn bis zwanzig Jahre jünger, Freundinnen findet sie dort keine. «Die Ladenöffnungszeiten verhindern so gut wie jedes soziale Engagement. Bis ich aus dem Geschäft komme, haben alle Kurse bereits begonnen.»
Auch samstags muss sie meistens arbeiten. Es bleiben ihr Sonntag und Montag – denkbar schlechte Tage, um Kontakte zu knüpfen. «Und wenn sich doch einmal ein Gespräch ergab, hatte ich kaum etwas zu erzählen. Schliesslich bestand mein Leben so gut wie ausschliesslich aus Arbeit.»
Erfolglose Suche
Es dauerte lange, bis sich Nadine Löhr ihre Einsamkeit eingestand. Die Belastung bei der Arbeit nahm zu, es kam zu zwischenmenschlichen Problemen mit ihrem Vorgesetzten. Bis sie vor zwei Jahren das nagende Gefühl erstmals gegenüber einer Freundin in Deutschland ansprach.
«Damals war ich bereits häufig deprimiert. Ich konnte mich kaum noch aufraffen etwas zu unternehmen.» Sie versuchte mit Nachbarn einen Kontakt aufzubauen, allerdings ohne Erfolg. «Man ging mal zusammen spazieren, mehr wurde daraus nicht.»
«Ist etwas mit mir falsch?»
Die Selbstzweifel von Nadine Löhr wurden immer grösser. «Das Alleinsein macht etwas mit einem. Ich fragte mich: Habe ich einen Defekt? Ist etwas mit mir falsch? Bin ich zu direkt?»
Im vergangenen Sommer schliesslich brach Nadine Löhr unter der Arbeitsbelastung zusammen, ihr Leben kippte aus dem Gleichgewicht. Burn-out, Klinikaufenthalt, Therapie. Zurzeit befindet sie sich in einem Wiedereingliederungsprogramm. «Mit einem stabilen sozialen Umfeld hätte ich dem Druck vermutlich besser standhalten können.»
Depression, Demenz, Krebs
Einsamkeit ist für den Homo Sapiens eine ebenso belastende wie bedrohliche Erfahrung. In jüngster Zeit haben verschiedene Studien zum besseren Verständnis beigetragen, wie die Emotion auf den Menschen wirkt.
Hirnscans zeigen, dass bei Einsamkeitsgefühlen die selben Hirnareale aktiv sind, wie bei körperlichen Schmerzen. Einsamkeit führt unter Umständen zu Angstzuständen, Depressionen und kann sogar Demenz begünstigen.
Auf einer körperlichen Ebene führt Einsamkeit zu Stress. Dieser erhöht den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel. Das wiederum schwächt die Immunabwehr, womit das Risiko für Infektionen und Krebserkrankungen steigt, das zeigt eine Studie, die gemeinsam von den Universitäten Chicago und Kalifornien durchgeführt wurde. Der Psychiater Manfred Spitzer bezeichnet die Einsamkeit in seinem Buch als die tödlichste Krankheit schlechthin.
Die Suche nach den Ursachen
Doch nicht alle Forscher teilen diese drastische Darstellung und kritisieren, es fehle vielen Studien an Belegen für einen Kausalzusammenhang zwischen Einsamkeit und weiteren Erkrankungen. So weist unter anderem der deutsche Soziologe Jonasch Schobin immer wieder öffentlich darauf hin, dass in vielen Studien unklar bleibe, ob Einsamkeit tatsächlich die Ursache von Krankheiten sei oder lediglich eine Begleiterscheinung.
Forscherinnen und Forscher haben in den vergangenen Jahren intensiv nach Antworten auf die Frage gesucht, wie Einsamkeit entsteht. Alle Erkläransätze haben mit den Umbrüchen unserer Zeit zu tun.
Die Rolle der Digitalisierung
Gemäss einer verbreiteten Annahme, trägt die Digitalisierung stark zum Einsamkeitsgefühl in der Gesellschaft bei. Weil ein zunehmend grösserer Teil unserer Kommunikation in digitale Kanäle abwandert, verlieren die zwischenmenschlichen Beziehungen an Belastbarkeit und Halt.
Diese Annahme wurde insbesondere durch die amerikanische Wissenschaftlerin Sherry Turkle verbreitet, deren einflussreiches Buch «Alone Together» die Vereinsamung in einer digitalen Welt beschreibt.
Zusammen alleine
In den Interviews, die Turkle führt, erzählen Jugendliche vom Druck, der entsteht, weil sie ständig Nachrichten beantworten müssen, und vom Gefühl der Entfremdung, wenn alle ständig über ihre Geräte mit Abwesenden verbunden sind, statt mit den im Raum Anwesenden zu kommunizieren.
Andere Wissenschaftler widersprechen dieser These und sehen die Ursachen vielmehr in der sich verändernden Arbeitswelt, wo der Druck steigt und den Menschen immer weniger Zeit bleibt zum Pflegen ihrer Beziehungen.
Viele junge Menschen in Therapie
Doktor Klaus Bader ist Leitender Psychologe in der Verhaltenstherapie-Ambulanz an den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel. Er kennt aus seiner Praxis beide Ursachen für Einsamkeit: steigende Arbeitsbelastung und die Vereinzelung durch die Digitalisierung.
Oft ist es eine Mischung aus beidem. «Ob sich jemand einsam fühlt», sagt Bader, «hat auch viel damit zu tun, wie sehr die Person emotional im Kontakt steht mit sich und anderen Mitmenschen.»
Wie glücklich sind andere?
Rund ein Drittel seiner Patientinnen und Patienten leide unter Einsamkeit. Besonders häufig beobachte er das bei jüngeren Menschen zwischen 14 und 35 Jahren. Die Ursachen seien individuell sehr unterschiedlich – oft leiden einsame Menschen jedoch unter einem tiefen Selbstwertgefühl.
Die sozialen Medien spielten dabei eine wichtige Rolle: «Sie verleiten dazu, Vergleiche herzustellen. Wie vernetzt sind andere, wie glücklich sind andere? Dadurch kann leicht der Eindruck entstehen, anderen gehe es besser, sie seien glücklicher oder sozial besser eingebunden.»
Symptom der Vereinzelung
Dabei müsse Einsamkeit nicht zwingend negativ sein, sagt Bader. Manche Menschen könnten darin auch einen Sinn finden, sich auf ihre Bedürfnisse besinnen und neue Kraft schöpfen. «Ich habe den Eindruck, die Toleranz für unangenehme Gefühle ist in unserer Gesellschaft insgesamt kleiner geworden.»
Dabei ist für Bader die Einsamkeit auch ein Symptom der Vereinzelung unserer Zeit. Sein Ratschlag lautet: «Wir sollten wieder mehr hinschauen und hinhören, wie es den Menschen in unserem Umfeld geht. Sich im sozialen Raum öfters einmal mitteilen und den Kontakt zu anderen suchen – ich glaube, das täte uns allen gut.»
Fondue-Essen mit Betroffenen
Mehr zuhören würde auch Nadine Löhr gerne. Sie ist eine Frau, die Anteil nimmt am Leben ihrer Mitmenschen. Während ihres Aufenthalts in der Klinik ist sie im Internet über die Stiftung Selbsthilfe Schweiz auf eine Gruppe gestossen, die sich zum Thema Einsamkeit trifft.
Anders als in anderen Selbsthilfegruppen ist bei den Treffen keine Betreuerin dabei, auch sitzen die Teilnehmenden nicht in einem Kreis zusammen. Sie treffen sich zu einer Wanderung, oder wie vor einigen Tagen bei jemandem zuhause zum Fondue-Essen.
«Wie ein Aufatmen»
Durch diese Treffen hat Nadine Löhr etwas Wichtiges gelernt. «Es gibt noch andere Leute, die mit beiden Beinen im Leben stehen und einsam sind. Ich merkte, ich bin doch nicht so verschroben. Das war wie ein Aufatmen für mich.»
Wie es für sie beruflich weitergeht, das weiss sie nicht. Aber eines sei für sie klar. Sie wolle in Zukunft nicht mehr ihr Sozialleben für die Arbeit opfern.