Es gibt nicht viele Professorinnen, die ihr eigenes Strassenschild bekommen – Anna Tumarkin ist eine davon. Vor 25 Jahren weihte die Universität Bern den Tumarkinweg direkt neben dem Hauptgebäude ein. Mitverantwortlich dafür ist die Historikerin Franziska Rogger. Sie hat sich intensiv mit dem Leben von Anna Tumarkin beschäftigt und eine Biografie über sie geschrieben.
«Anna Tumarkin ist die erste Frau, die an einer koedukativen Universität 1909 auf ganz normalem Weg zur Professur gekommen ist und sie hatte die gleichen Rechte und Pflichten wie die Männer», sagt Franziska Rogger.
Zum Studium – in die Schweiz
Der Weg zur Professur war für Tumarkin alles andere als einfach: Im Russland des 19. Jahrhunderts durften Frauen nicht studieren. Also verliess die 17-Jährige ihre russische Heimat und kam 1892 an die Universität Bern.
Die Schweiz war damals eines der ersten Länder, die Frauen zum Studium zuliessen. Viele Frauen, vor allem aus Osteuropa, nutzten diesen Umstand. So sei es immer wieder vorgekommen, dass in gewissen Vorlesungen mehr Russinnen im Saal waren als Schweizer Männer, so die Historikerin.
Anna Tumarkin galt als umgänglich und hatte viele Unterstützer. Als einzige philosophische Rednerin hielt sie etwa 1904 am internationalen Philosophenkongress in Genf einen Vortrag. 1921 bekam sie das Schweizer Bürgerrecht und im Gegensatz zu Russland und den faschistischen Tendenzen in Europa fühlte sie sich hier als Jüdin sicher und verbunden.
Dies ging so weit, dass sie gar eine Schweizer Philosophie begründete, der sie einen gewissen Pragmatismus attestierte und die sie als «erdverwurzelt» sah. Mit diesen Ideen setzte sie sich während des Zweiten Weltkriegs am Rundfunk auch für die geistige Landesverteidigung ein.
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Bild 1 von 3. Es ist amtlich: Anna Tumarkin erreicht den Titel einer Extraordinaria. Eine ordentliche Professur erhielt sie indes nie – damit waren unter anderem deutliche Gehaltseinbussen verbunden. Bildquelle: Stämpfli Verlag.
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Bild 2 von 3. Anna Tumarkin war ihrer Zeit voraus – und wurde damit auch zur Zielscheibe. Karikatur aus der Monatszeitschrift «Bärenspiegel». (1934). Bildquelle: Stämpfli Verlag.
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Bild 3 von 3. Post von der Familie aus Chișinău, 1900. Nach den zaristischen Pogromen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dem nationalsozialistischen Terror war Anna Tumarkin die einzige Überlebende ihrer Familie. Bildquelle: Stämpfli Verlag.
Lebenslange Partnerin
Schwer trug Tumarkin an den Qualen ihrer jüdischen Familie, die in den russischen Pogromen und im nationalsozialistischen Terror umgekommen war. So bekam sie nach dem Zweiten Weltkrieg einen Brief, in dem es hiess, sie sei die einzige Überlebende Ihrer grossen Familie.
In schwierigen Zeiten stets an ihrer Seite war die Schweizer Ärztin Ida Hoff, mit der Anna Tumarkin das Leben und die Wohnung in Bern teilte. Damals war es nicht unüblich, dass Frauen aus Geldgründen zusammenwohnten.
Die Historikerin Franziska Rogger sagt: «Das hat sich dann wirklich zu einer sehr tiefen menschlichen Beziehung ausgeweitet. Sie haben die Freizeit miteinander verbracht, haben sich auch gegenseitig als Erbinnen eingesetzt und sind ins gleiche Grab gegangen. Das hat damals keine grossen Wellen geschlagen.»
Ida Hoff war wohl auch mitverantwortlich, dass Anna Tumarkin die Frauenpolitik für sich entdeckte. So arbeitete Tumarkin 1928 aktiv mit bei der SAFFA, der Schweizer Ausstellung für Frauenarbeit.
Ursprünglich sei sie skeptisch gegenüber dem Frauenstimm- und Wahlrecht gewesen, sagt Franziska Rogger. Mit der Zeit habe sie dann aber gesehen, dass die Möglichkeiten der Frauen auch in der Schweiz immer wieder an Grenzen stossen. Schliesslich setzte sich Anna Tumarkin intensiv für das Frauenstimm- und Wahlrecht ein.
1951 starb Tumarkin mit 76 Jahren nach langer Krankheit. Die Schweiz kann heute stolz sein auf die Wissenschaft und die Frauenförderung ihrer ersten Professorin – Anna Tumarkin.