Die Schweiz ist seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Einwanderungsland. Migrantinnen haben hier eine bedeutende gesellschaftliche und politische Rolle gespielt – und zur Emanzipation der Schweizerinnen beigetragen, sagt die Historikerin und Migrationsforscherin Francesca Falk.
SRF: Die Schweiz war eine Pionierin, als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Frauen zum Studium an die Universitäten zuliess. Wie kam es dazu?
Francesca Falk: Damals kamen viele Russinnen in die Schweiz, die aus politischen Gründen aus dem Zarenreich geflüchtet waren. Zudem waren sie dort von den Universitäten ausgeschlossen worden.
In der Schweiz aber konnten sie in einem politisch liberalen Umfeld studieren. Die Universität Zürich war die erste Schweizer Hochschule, die Frauen zum Studium zuliess.
Hier waren es vor allem deutsche Professoren, die sich für diese Öffnung stark machten. Dass hierzulande zahlreiche politische Geflüchtete als Professoren tätig waren, begünstigte diesen Emanzipationsprozess ganz konkret.
Die russischen Studentinnen wurden hier mit offenen Armen empfangen. Doch nur wenige Schweizerinnen besuchten eine Universität. Warum?
Dies hatte damit zu tun, dass Frauen in der Schweiz lange keinen Zugang zum Gymnasium hatten. Wenn sie an einer Universität studieren wollten, mussten sich privat dafür vorbereiten. So machte es zum Beispiel Marie Heim-Vögtlin, die als erste Schweizerin Ärztin wurde.
Einige ausländische Studentinnen und Professorinnen kämpften im 20. Jahrhundert für das Frauenstimmrecht. Gab es auch Schweizerinnen, die ins Ausland gingen und nach der Rückkehr gleiche politische Rechte forderten?
Ja, zum Beispiel Marie Goegg-Pouchoulin: Sie gründete 1868 in Genf die Association internationale des femmes, die sich für die Gleichstellung der Frauen in Bildung, Beruf und Politik einsetzte. Sie hatte zuvor in London gelebt und dort die englische Frauenbewegung kennengelernt. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz wurde sie hier aktiv.
Gab es andere gesellschaftliche Gruppen von Frauen, die in der Schweiz zur Frauenemanzipation beitrugen?
Auch die italienischen Einwanderinnen, die in den wirtschaftlichen Boomjahren der Nachkriegszeit hier Arbeit suchten, trugen dazu bei.
Sie waren erwerbstätig, auch wenn sie Kinder hatten und steuerten ihren Lohn zum Familieneinkommen bei. Damit gewannen sie ein Stück Unabhängigkeit und praktizierten einen Gegenentwurf zum traditionellen Familienmodell mit dem Mann als Ernährer und der Frau als Mutter und Hausfrau.
Dabei wurde klar: Die Schweiz war auf diese Frauen angewiesen und musste Betreuungsplätze für ihre Kinder bereitstellen. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass diese Frauen auch einen Preis bezahlten: Ihre Arbeitsbelastung war oft sehr gross.
Anderseits führte dies dazu, dass Schweizerinnen im Arbeitsmarkt kaum präsent waren.
Tatsächlich war die Erwerbstätigkeit der Schweizerinnen lange gering – mit einschneidenden finanziellen Folgen für die Frauen, die heute im Rentenalter sind. Sie erhalten nur halb so viel Geld aus der Pensionskasse wie die Männer.
Umgekehrt lässt sich sagen, dass Schweizer Mittelschichtsfamilien von der aufgebauten Infrastruktur zur Kinderbetreuung profitieren konnten, als viele «ausländische» Familien in der Rezession ab den 1970er-Jahren wieder in ihre Herkunftsländer zurückgingen.
Nun wurde es auch für die einheimischen Frauen leichter, Erwerbstätigkeit und Kinder unter einen Hut zu bringen.
Umgekehrt gefragt: Was hat die Schweiz den Frauen, die aus dem Ausland eingewandert sind, in Sachen Emanzipation bieten können?
In bestimmten Punkten war die Schweiz fortschrittlich, wie die Geschichte des Universitätsstudiums zeigt. Aber auch das Scheidungsrecht war bereits im 19. Jahrhundert liberaler als in anderen Ländern. Es liess im internationalen Vergleich bereits früh zu, dass sich Paare scheiden lassen konnten.
Das Gespräch führte Sabine Bitter.