Adèle Villiger spürte eine neue Art von Freiheit: «Mein Leben als Frau wurde leichter. Plötzlich hatte ich andere Möglichkeiten.»
Erstaunen dagegen bei Ximena Amador. Darüber, wie stark die traditionellen Geschlechterrollen in der Schweiz sind. «Man muss sich entscheiden: Hausfrau oder Karriere. Das hat mich ein bisschen schockiert.»
Schock oder Schub?
Adèle Villiger stammt aus Kamerun, Ximena Amador aus Mexiko. Die Erfahrungen der beiden Frauen zeigen für die Migrations- und Genderforscherin Amina Trevisan die komplexe Widersprüchlichkeit des Alltags von Migrantinnen: «Manche Frauen erfahren in der Schweiz einen Emanzipationsschock. In ihrem Herkunftsland führten diese Frauen ein eigenständiges, emanzipierts Leben. In der Schweiz müssen sie häufig von Null beginnen und erleben einen grossen Autonomieverlust.»
Für andere Migrantinnen hingegen bedeute die Migration in die Schweiz einen Emanzipationsschub: «Zum Beispiel, wenn sich die Migrantin aus problematischen Familienstrukturen lösen kann und Unabhängigkeit gewinnt.»
In Kamerun war der Lebensweg vorgespurt
So war es bei Adèle Villiger. Sie kommt in den 1990er-Jahren als Zehnjährige in die Schweiz. Davor lebte sie in einem kleinen Dorf in Kamerun, ländlich und patriarchal geprägt.
Die Geschlechterrollen waren so klar getrennt wie ein Mittelscheitel: «Mädchen gehörten in die Küche oder mussten sich um die kleineren Geschwister kümmern.» In der Schule sei sie sehr gut gewesen. «Aber das spielte keine Rolle. Man blieb einfach ein Mädchen, eine Frau. Der Lebensweg war vorgespurt: Heirat, Kinder, Haushalt.»
Das Ankommen in der Schweiz hat Adèle Villiger neue Möglichkeiten eröffnet. Hier waren ihr Dinge erlaubt, die in ihrem Dorf undenkbar waren: In der Schule dem Lehrer zu widersprechen etwa. «Ich war irritiert, dass in der Schule plötzlich meine Meinung gefragt war. Oder dass ich gefragt wurde, welchen Beruf ich einmal haben möchte.»
An die neuen Freiheiten musste sich Adèle Villiger erst gewöhnen. «Zunächst fühlte sich das an wie ein Geschenk, vor dem ich Angst hatte. Ich traute mich gar nicht, diese Freiheit zu nutzen. Ich dachte, das stehe mir nicht zu.»
Mit der Zeit lernte Adèle Villiger für sich selbst einzustehen: «Auch dank einer Psychologin. Ich verstand: Das ist kein Geschenk, sondern mein Recht. Das war eine Befreiung.»
In Kamerun wäre es wohl nicht möglich gewesen, als alleinerziehende Mutter eine Ausbildung zu abzuschliessen.
Konfrontiert mit Rassismus
Ungewohnt war für Villiger auch, dass sie plötzlich mit Rassismus konfrontiert wurde: «Ich spürte das überall. Auf der Strasse wurde ich für eine Prostituierte gehalten.»
Auch bei der Berufssuche machte Adèle Villiger diskriminierende Erfahrungen: «Der Name Villiger ist von meinem Adoptivvater. Ich wurde normalerweise sofort eingeladen zu Bewerbungsgesprächen. Als ich dann erschien, kippte die Stimmung: Eine Schwarze Frau hat niemand erwartet, sie verloren das Interesse an meiner Bewerbung.»
Ausbildung und Kind: In der Schweiz schwierig, aber möglich
Migration sei mit widersprüchlichen Erfahrungen verbunden, sagt auch Migrationsforscherin Amina Trevisan: «Migrantinnen können neue Freiheiten erlangen, gleichzeitig aber auch konfrontiert sein mit Diskriminierung und Rassismus.»
Trotz der schmerzhaften Erfahrungen sagt Adèle Villiger, in der Schweiz habe sie sich emanzipieren können. Obwohl sie mit 19 Jahren schwanger wurde, absolvierte sie ein Handelsdiplom – in ihrer Heimat hätte sie das nicht gekonnt, sagt Villiger: «In Kamerun wäre es wohl nicht möglich gewesen, als alleinerziehende Mutter eine Ausbildung zu abzuschliessen. Und das Stigma ist gross.»
Aber auch in der Schweiz sei es schwierig, als alleinerziehende Mutter eine Stelle zu finden. Kind und Beruf zu vereinbaren sei praktisch unmöglich: «Da gibt es viel Aufholbedarf. Und von der Lohnungleichheit müssen wir gar nicht sprechen.»
Von Mexiko in die Schweiz
Ganz andere Erfahrungen mit der Migration in die Schweiz hat Ximena Amador gemacht. Sie kommt aus Mexiko. «In Mexiko hatte ich viele Privilegien. Ich komme aus einem gut gebildeten Haushalt. Die Gleichstellung zwischen Mann und Frau war selbstverständlich. Emanzipation war für mich normal.»
In der Schweiz ändert sich das schlagartig. Die Grafikdesignern hat unter anderem in den USA, Grossbritannien und Spanien gelebt. 2009 folgt sie ihrem Mann in die Schweiz, der hier eine Stelle hat. Zunächst kümmert sie sich um die die gemeinsamen Kinder, den Haushalt. Dann versucht Amador, eine Stelle zu finden.
Ximena Amador ist hochqualifiziert, hat unter anderem einen Master in Sozialökonomie von der englischen Eliteuniversität Plymouth. Als sie in der Schweiz keine Stelle findet, empfiehlt ihr die Berufsberatung, sich weiterzubilden. Sie hängt einen weiteren Master in Visueller Kommunikation an.
Schlechte Chancen trotz guter Ausbildung
Dennoch findet Ximena Amador seit zehn Jahren keine Stelle, die ihrer Qualifikation entspricht. Eine Tatsache, die sie in ihrem Selbstbild als unabhängige Frau erschüttert: «In dieser Gesellschaft ist Arbeit das Wichtigste. Wer keine findet, ist ein Niemand.»
Besonders für Frauen sei das schlecht: «Wir werden abhängig von unseren Männern, das führt sofort zu Ungleichheit. Man kann nicht mit derselben Stimme sprechen, wenn man ökonomisch abhängig ist wie ein Kind.»
«Ich verliere mein Wissen, meine Fähigkeiten»
Ximena Amador ist in den letzten zehn Jahren verschiedenen Arbeiten nachgegangen. Sie engagiert sich in ehrenamtlichen Projekten, begleitet Pensionierte.
«Ich liebe diese Arbeit» sagt Amador, aber sie wünscht sich eine Arbeitsstelle, bei der sie ihre Qualifikationen nutzen kann: «In der Schweiz führe ich eher ein Leben wie ein Roboter. Nicht das Leben einer Person, die ein Gedächtnis hat, einen Verstand, Wissen und Träume.»
Dabei seien es die intellektuellen Herausforderungen, die sie glücklich machten: «Was passiert mit all dem Wissen in meinem Kopf, wenn ich es nicht benutze?»
«Brain Waste» nennt das Ximena Amador: «Aus der Sicht von Mexiko war ich Teil des Brain Drain: Eine gut qualifizierte Frau, die das Land verlässt und damit eine Lücke hinterlässt. In der Schweiz aber wurde ich zum Brain Waste und verliere meine Fähigkeiten. Ich erlebe eine Dequalifizierung.»
Hochqualifiziert im Niedriglohnsektor
De-Qualifizierung, also der Verlust oder die Entwertung beruflicher Fähig- und Fertigkeiten, erleben viele gut qualifizierte Migrantinnen in der Schweiz. «24 Prozent der Migrantinnen, die über einen Hochschulabschluss verfügen, sind von Dequalifizierung betroffen», erklärt Migrationsforscherin Amina Trevisan.
Viele hochqualifizierte Migrantinnen müssen Arbeiten annehmen, für die sie überqualifiziert sind, häufig im Niedriglohnsektor. Dafür gibt es verschiedene Gründe, sagt Trevisan: «Ein grosses Problem ist, dass die Schweiz häufig Diplome und Abschlüsse von Migranten und Migrantinnen nicht anerkennt, ebenso wenig die langjährige Berufserfahrung.»
Auch die Verschränkung von Sexismus und Rassismus führt dazu, dass gerade gut qualifizierte Migrantinnen bei der Arbeitssuche Schwierigkeiten haben.
Unterschätzt wegen dem Akzent?
Ximena Amador hat erlebt, dass sie trotz hoher Bildung unterschätzt wird. Es wurde erwartet, dass sie sich mit einfacheren Arbeiten zufrieden gibt.
Ich habe immer, in jedem Land, etwas mit meinem Leben gemacht. Aber in der Schweiz ist es schwer.
Eine Chance zu bekommen sei schwierig: «Die Leute hören meinen Akzent und denken, ich sei zu weniger fähig. In anderen Ländern habe ich das so nicht erlebt.» Ximena Amador legt ihre beiden Handgelenke übereinander. «Es ist, als seien mir die Hände gebunden. Als sei ich disposable.»
Disposable: Amador fühlt sich wegwerfbar. «Meine Kinder haben hier eine Zukunft, mein Mann auch. Aber ich? Manchmal kommt es mir vor, als sei ich in der Schweiz einfach Verpackung meiner Familie.»
Aber sie könne nicht einfach zu Hause sitzen, sagt sie. «Ich habe immer, in jedem Land, etwas mit meinem Leben gemacht. Aber in der Schweiz ist es schwer. Ich frage mich warum?»
Das Gegenteil der Emanzipierung
Dequalifizierung gehe häufig mit einer Deemanzipierung einher, so Migrationsforscherin Amina Trevisan: «Emanzipation bedeutet ja Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit.»
Bei einer Dequalifizierung passiert das Gegenteil: «Die Frau erlebt einen Autonomieverlust, ist plötzlich wieder abhängig vom Ehemann und zurückgeworfen auf ein traditionelles Frauenbild. Das kann grosse seelische Krisen auslösen.»
Migrantinnen arbeiten häufiger Vollzeit
Gut qualifizierte Migrantinnen, die eine Arbeitsstelle finden, seien bereit, deutlich mehr zu arbeiten als gut qualifizierte Schweizerinnen, sagt Amina Trevisan.
«Häufig kommen sie aus Ländern, wo es normal ist Kind und Beruf zu haben. 62 Prozent der Migrantinnen arbeiten in einer Vollzeitanstellung. Das ist bedeutend mehr als bei gut qualifizierten Schweizerinnen, die in der Regel eher Teilzeit arbeiten.» Damit tragen Migrantinnen zu einem anderen Rollenverständnis in der Schweiz bei, so Trevisan.
Häufig sind es auch Migrantinnen, die bei gut qualifizierten Schweizerinnen und Schweizern Teil der Care-Arbeit übernehmen: im Haushalt putzen oder die Kinder hüten, damit beide Schweizer Eheleute arbeiten können. Damit tragen Migrantinnen zur Emanzipation der Schweizerinnen bei.
Wer stillsteht, fällt um
Die Erfahrungen, die Migrantinnen in der Schweiz in Bezug auf ihre Emanzipation machen, sind unterschiedlich und nicht verallgemeinerbar. Was Adèle Villiger und Ximena Amador verbindet, ist der grosser Wille, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
«Unabhängigkeit ist für mich ein hohes Gut», so Adèle Villiger. Für Ximena ist ein unabhängiges Leben wie Velofahren: «Man muss sich mindestens ein bisschen bewegen, sonst fällt man um. Man darf nicht stehen bleiben. Wenn ich einfach zu Hause sitze, kann ich mein Leben nicht leben. Also gehe ich raus, engagiere mich. Sonst werde ich noch fremder in dieser Gesellschaft.»
Für manche Frauen nimmt das Velo mit der Migration in die Schweiz Fahrt auf. Bei andern stockt es. Auch, weil die strukturellen Hürden gross sind.