Das Gedankenexperiment stammt vom US-amerikanischen Philosophen John Rawls. Seine «Theorie der Gerechtigkeit» von 1971 gilt als einflussreichstes Werk der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Rawls fragt sich darin, auf welchen Grundprinzipien ein gerechter Staat aufgebaut sein soll.
Ein Schleier gegen die Parteilichkeit
Rawls meinte, zur Bestimmung der Gerechtigkeit brauche es ein faires Verfahren. Hier kommt der Schleier des Nichtwissens ins Spiel. Er garantiert nämlich, dass die Suche nach den Grundregeln des Zusammenlebens nicht von eigenen Interessen gesteuert wird. Der Schleier sorgt für Unparteilichkeit.
Wer die Grundprinzipien der Gesellschaft festlegt, sollte unbefangen und fair entscheiden. Das gelingt dann am besten, wenn man nicht weiss, wie sich die Entscheidung auf einen selbst auswirken wird. Wer reich ist, der ist befangen, wenn es um die Reichtumssteuer geht. Für den Armen gilt dasselbe. Wer jedoch nicht weiss, ob er als Reicher oder als Armer in der Gesellschaft leben wird, der wird Gesetze schaffen, die Reiche und Arme fair behandeln.
Wer den Schleier des Nichtwissens umgebunden hat, der wird Grundregeln des Zusammenlebens definieren, die für alle Menschen fair sind. Aber was heisst das? Worauf könnten sich Arme, Reiche, Männer, Frauen, Gläubige, Atheisten, Kluge, Denkfaule, Spiesser und Hippies hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen?
Ungleichheit für die Schwächsten
In einem ersten Schritt werden sie nach Rawls die Grundregeln so gestalten, dass alle die gleichen Rechte und möglichst viele Freiheiten haben. So viele Freiheiten für alle wie möglich, lautet das oberste Prinzip – denn jeder möchte seine Vorlieben ausleben können. Grundrechte wie etwa das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Eigentum, auf Rede- und Wahlfreiheit oder das Diskriminierungsverbot sollen für alle gleichermassen gelten.
Im Rahmen dieser Grundrechte und Freiheiten sollen in einem zweiten Schritt Ungleichheiten nur dann toleriert werden, wenn diese allen zugutekommen, auch den Schwächsten. Ungleichheit ist also nur dann der Gleichheit vorzuziehen, wenn alle davon profitieren. Diese Regel nennt man auch Differenzprinzip oder Maximin-Regel, denn sie maximiert das Minimum, indem sie den Schlechtestgestellten hilft.
Drittens müssen die Positionen der Bessergestellten prinzipiell für alle offenstehen. Jeder muss es nach oben schaffen können. Stichwort Chancengleichheit. Auf diese Prinzipien werden sich vernünftige Personen hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen können, meint Rawls. Aber stimmt das?
Stellen Sie sich vor, hinter dem Schleier sitzt ein Spieler, der pokert. Er hofft darauf, dass er reich sein wird und findet, die Reichen sollen für ihren Reichtum nicht bestraft, sondern belohnt werden. Er nimmt das Risiko der Armut bewusst in Kauf. Rawls schliesst in seinem Gedankenspiel solche risikofreudigen Spieler zwar aus. Aber sind Zocker denn unvernünftig?
Ein Schleier für Rassisten
Weiter wurde gegen Rawls eingewendet, dass der Schleier keineswegs eine neutrale Beurteilung garantiere. Hinter den Gerechtigkeitsprinzipien, auf die man sich nach Rawls angeblich einigen kann, verstecke sich nämlich ein individualistisches, westliches Gesellschaftsmodell.
Das wird klar, wenn wir uns fragen: Auf welche Prinzipien könnten sich religiöse Fundamentalisten hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen? Worauf würde sich eine Bande von Rassisten einigen? Wäre ein Rassist vielleicht sogar damit einverstanden, als Farbiger schlechter behandelt zu werden?
Die entscheidende Frage lautet also: Können wir bei der Bestimmung der Gerechtigkeit von unseren eigenen Weltbildern und Werten abstrahieren? Gibt es eine neutrale Gerechtigkeit, die von keinem Welt- und Menschenbild und von keiner Vorstellung des guten Lebens abhängig ist?
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