Das Gedankenexperiment «Schiff des Theseus» stellt die Frage, ob wir uns selbst bleiben können, auch wenn wir uns doch ständig verändern. So sahen wir früher anders aus, dachten anders und fühlten anders. Im Laufe der Zeit hat sich fast alles an uns verändert. Herr Scobel, sind Sie noch dieselbe Person wie vor 30 Jahren?
Nein. Ja. Beides ist richtig und falsch zugleich. Einerseits habe ich mich wie jeder Mensch über die Jahre verändert. Diese Veränderung berührt alles – Zellen, Gefühle, Erinnerungen, Verhalten. Und doch sage ich morgens, wenn ich aufwache wieder «ich». Folgt daraus, dass das «Ich» der Kinderzeit und das «Ich» von heute ein und dasselbe Objekt sind? Nein. Es folgt erstens lediglich, dass ich ein Wort auf eine bestimmte Weise verwende, damals wie heute. Und diese Verwendung habe ich von anderen Menschen gelernt. Leider verführt uns die Tiefenstruktur der Grammatik und suggeriert Kontinuität und Identität wo es keine gibt.
Was macht uns zu den Personen, die wir sind?
Zuschreibungen: eigene und fremde. Es gibt den Kern der Person ebenso wenig wie des Pudels Kern. Wenn Sie es physikalisch betrachten wollen: In dem anscheinend einigermassen festen Gebilde, das Sie die Person «Gert Scobel» nennen, schwirren geladene Teilchen in einer unglaublichen und chaotischen Weise durcheinander, wobei der grösste Teil des «Raumes», den diese Teilchen einnehmen, leer ist. Sie merken das genauso wenig wie ich selbst. Aber auch psychologisch und philosophisch gilt die Unbestimmtheit. Wir alle sind keine klar und fest definierten Lebewesen – denn unser Bewusstsein verändert sich ebenso wie unser Körper. Und doch sagen wir aus gutem Grund, dass alle Menschen Personen mit einer unverletzlichen Würde sind. Warum? Weil wir es so wollen. Weil uns eine solche Welt als bessere Welt erscheint.
Welche Rolle spielt das Gedächtnis und die Erinnerung für unsere Identität?
Wir sind die Geschichte, die wir über uns präsent haben. Wir sind im Verhältnis zu uns selbst Geschichtenerzähler. Wenn wir unsere Erinnerung verlieren, unsere Geschichten, dann verlieren wir uns selbst. Die Neurowissenschaften bestätigen diesen Zusammenhang von «Erinnerung» und «Identität» auf vielerlei Weise. Aber ich ziehe es tatsächlich vor, uns selbst als Geschichtenerzähler zu sehen. Die Geschichten, die wirklich geworden sind, machen unsere Geschichte aus.
Kann unser Selbstbild auch zur Zwangsjacke werden? Wie lernt man, für Veränderungen offen zu bleiben?
Das ist ein sehr komplexer Prozess. Eine einschneidende Erfahrung, eine Therapie, vielleicht ein Drogenerlebnis – und sie gehen verändert aus dieser Erfahrung hervor. Zweifeln hilft. Im Grunde geht es um die Kunst, Abstand zu gewinnen: von sich, von Worten, Begriffen, Vorstellungen. Das können nur wenige Menschen. Ich halte es für erstrebenswert – und es ist sicher ein Zeichen von Weisheit, dies zu können. Wir sollten grösser sein als unser Selbstbild und uns nicht von ihm behindern lassen. Frei zu sein bedeutet auch frei zu sein von einem allzu fixierten Selbstbild.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Glauben Sie, dass etwas von Ihnen den Tod überleben wird?
Was meinen Tod überleben könnte, sind die Erinnerungen, die andere Menschen an mich haben. Aber diese Erinnerungen sind nicht «Ich». Was «Ich» jetzt ist, nämlich dieser Zusammenhang, dieses Muster von Bewusstsein, Erinnerungen, Wahrnehmung etc. wird nicht mehr nach dem Tod sein. Mehr kann ich beim besten Willen nicht sagen. Der Tod ist die Grenze des Sagbaren.
Das Interview wurde schriftlich geführt.