Herr Precht, Sie stehen am Stellwerk und müssen entscheiden, ob Sie einen Zug ohne Bremsen auf eine Gruppe von fünf Bauarbeitern auffahren lassen oder auf einen einzelnen Arbeiter. Das ist die Ausgangslage im Gedankenexperiment «Strassenbahn». Was würden Sie tun?
Ich weiss nicht, was ich tun würde. Wahrscheinlich würde ich wild und vergeblich rufen. Aber die Frage will ja auch nicht wissen, was ich wirklich tun würde. Sie will wissen, was ich meine, tun zu sollen. Und da würde ich wohl auch die Weiche umstellen auf den einzelnen Arbeiter.
Ist es moralisch gesehen schlimmer, eine Person aktiv zu töten, als sie passiv sterben zu lassen? Wenn ja, warum?
Für den philosophischen «Utilitarismus» ist beides gleich schlimm, weil er eine Handlung nach ihren Folgen bewertet. In unserem moralischen Empfinden beurteilen wir allerdings auch die Absicht und die Motivation einer Handlung mit.
Wenn ich nicht spende, und es sterben deswegen Bauern in Eritrea, ist mein Handeln vielleicht kalt und gleichgültig. Wenn ich jedoch nach Eritrea reise und eigenhändig ein paar Bauern erschiesse oder erwürge, handle ich gezielt sadistisch. Selbst wenn die Folgen gleich sein sollten, die Handlung ist unterschiedlich zu bewerten.
Würden Sie die Weiche auch stellen, wenn es sich bei der einzelnen Person um Ihr eigenes Kind handelte?
Selbstverständlich nicht!
Kann es moralisch richtig sein, Personen zu bevorzugen, die uns nahestehen?
Es ist richtig, weil es sich richtig anfühlt. Moral ist ein hochsensible emotionale Sache und keine mathematische Rechenaufgabe. Eine Ethik, die unsere biologischen Instinkte ausblendet, ist vielleicht gerecht, aber zugleich inhuman.
Sollten wir den dicken Mann von der Brücke stossen?
Auf keinen Fall!
Warum nicht?
Aus den gerade genannten Gründen. Wir schubsen nicht, weil diese moralische Handlung kontraintuitiv ist.
Darf man Menschen unter keinen Umständen instrumentalisieren? Oder gibt es Situationen, in denen es moralisch zulässig ist, beispielsweise jemanden zu foltern?
Darauf gibt es keine gute Antwort. In der Praxis müssen wir irgendwo die richtige Mitte finden: zwischen Kants Gebot, dass wir einen Menschen nicht «verzwecken» dürfen und der utilitaristischen Maxime, zwischen Glück und Leid abzuwägen. In jedem Fall befinden wir uns bei dieser Frage zwischen zwei Polen.
Das Interview wurde schriftlich geführt.