«Verzicht» und «Freiheit» – ein Gegensatz? Nicht für Jean-Pierre Wils: «Ich glaube, dass wir heute Freiheitskorrekturen brauchen. In der Moderne haben wir die Freiheit in der Tat als eine stete Erweiterung unserer Handlungsoptionen verstanden – mit entsprechenden materiellen und ökologischen Konsequenzen. Nun sind wir am Ende dieser Freiheitserweiterung angelangt.»
Angesichts der Ökokrise müssten wir wählen – zwischen einer zivilisierten oder einer chaotischen Limitierung unserer Freiheiten. «Die Handlungsumstände haben sich gravierend verändert. Wir werden ständig mit ökologischen Bedrohungsszenarien konfrontiert. Wir brauchen daher einen Realismus, der uns sagt: Wir müssen uns auf schwierigere Zeiten einstellen.»
Heute regiert der Egoismus
Es gebe zwei Optionen: «Angesichts der künftigen Begrenzungen können wir uns demokratisch und rational darauf einstellen – diese Veränderung also in geordnete Bahnen führen. Oder wir warten ab und tun nichts. Dann aber werden wir von den Umständen überwältigt werden und uns möglicherweise in chaotischen und ungeordneten Verhältnissen wiederfinden.»
Um die demokratische Zukunft geordnet anzugehen, sei Verzicht notwendig, schreibt Jean-Pierre Wils. Den Luxus des masslosen, übertriebenen Lebensstils könnten wir uns nicht leisten. Der Begriff «Freiheit» werde heute oft missbraucht: Freiheit werde mit ungebremstem Konsum gleichgesetzt. Egoismus triumphiere, der Gedanke ans Gemeinwohl sei geschwunden.
«Wir verstehen Freiheit als eine Erweiterung unserer subjektiven Rechte. Ich glaube, dass diese Perspektive umgekehrt werden muss: Wir können nur dann frei sein, wenn wir das kooperativ tun und uns der Einschränkungen und vielleicht auch der künftigen Verzichte bewusst sind, die die Gewährleistung dieser Freiheiten überhaupt erst möglich machen.»
Die Suche nach dem richtigen Mass
Dem stehe entgegen, dass Werbung und Medien ständig versprechen, wir könnten alle Grenzen überschreiten und dadurch Lust, Befriedigung und Erfüllung finden. Jean-Pierre Wils dagegen greift auf einen philosophischen Gedanken zurück, der einst Aristoteles formuliert hat: die Suche nach dem richtigen Mass.
«Seit dem 16. Und 17. Jahrhundert ist dieses Masshalten zunehmend in Bedrängnis geraten. Es ist eine ökonomische Systematik entstanden, die die Masslosigkeit – das Übertreten von Grenzen – propagiert. Wir haben diese Massgabe der Masslosigkeit wirklich internalisiert.»
Unseren Freiheiten neu denken
Schon 1972 hat ein Zusammenschluss von Expertinnen und Experten, der sogenannte Club of Rome, vor den Grenzen des Wachstums gewarnt. Dieser Bericht ist über Jahrzehnte fast ungehört verhallt. Zu lange hätten wir die Folgen des Klimawandels nicht am eigenen Leib erfahren. Das lasse sich nicht mehr ausblenden, sagt Jean-Pierre Wils. Deshalb hält er eine Neujustierung der Freiheit für dringend nötig.
Wir müssten unser Verhalten kritisch betrachten und lokal politisch handeln. Notwendig sei auch eine neue Sprache: «Eine Sprache der Mässigung, eine Sprache der Selbstkritik. Eine Sprache auch der Bereitschaft, Verzicht zu üben und Einschränkungen zu realisieren. Womöglich mit dem Ergebnis, dass unser Leben keineswegs schlechter wird, sondern anders und womöglich sogar auch glücklicher.»