Kerem Adigüzel gilt als Vorzeige-Muslim. Er stammt aus Rorschach, ist Offizier der Schweizer Armee, Software-Entwickler bei der SBB. Und Präsident des Vereins «Al-Rahman – mit Vernunft und Hingabe». Das Etikett «liberaler Muslim» mag Adigüzel aber nicht. Es greife zu kurz.
«Wir sind inklusiv»
«Unser Verein ist weder liberal noch konservativ. Das sind politisch konnotierte Begriffe. Wir verstehen uns als Gottergebene, was Muslime auf Arabisch heisst», sagt Adigüzel. Damit meint er: Gott zu folgen – aber Traditionen neu zu interpretieren.
Der Koran schreibt nicht vor, dass die Gebete auf Arabisch sein müssen.
Die Ideale seines Vereins fasst Adigüzel so zusammen: «Wir sind inklusiv – aus islamischen Gründen.» Er ist der Auffassung, der Islam schliesse niemanden aus. Jeder sei willkommen – unabhängig vom Migrationshintergrund, vom Geschlecht oder von der sexuellen Identität.
Bei den Gebeten sei der Verein flexibel: «Der Koran schreibt nicht vor, dass die Gebete auf Arabisch sein müssen. Das ist Tradition und kein Gesetz», sagt Adigüzel. Er sympathisiere mit Gebeten auf Deutsch. Auch mit Frauen als Vorbeterinnen habe er kein Problem. Das sind Dinge, die in einer traditionellen Moschee undenkbar sind.
Gebet im Yoga-Raum
Seit einem Jahr gibt es den Verein «Al-Rahman – mit Vernunft und Hingabe». Eigentlich wollten Adigüzel und seine Mitstreiterinnen längst einen Raum mieten – für Gottesdienste und Treffen. «Wir haben die Vereinsgründung unterschätzt», gesteht Adigüzel. Und die Raumsuche sei schwierig. Der Verein habe nur 18 Mitglieder und sei klamm bei Kasse.
«Wir hatten das Angebot eines Immobilienmaklers, einen grossen Raum zu mieten. Der hätte uns monatlich 2000 Franken gekostet. Das Geld muss man erst mal haben», sagt Adigüzel. Vorübergehend nutzt der Verein einen Yoga-Raum in Schlieren. Die Mitglieder kommen jeden Freitag zusammen, die Miete kostet 250 Franken im Monat.
Adigüzels Vision lautet, eines Tages eine eigene Moschee zu eröffnen: «Mit viel Holz und in der Nähe der Natur als Zeichen für Erdverbundenheit. Der Raum soll ein warmes Gefühl der Gottergebenheit vermitteln.»
Viel Lärm um wenig Muslime
Doch das ist Zukunftsmusik. Denn der Verein hat mit dem Paradox zu kämpfen, für seine fortschrittlichen Ideen von Politikern und Medien gelobt zu werden – unter Musliminnen und Muslimen aber nur wenig Rückhalt zu finden. Auch deswegen fehle das Geld, um Träume zu verwirklichen.
«Diese Moscheen sind kein Bedarf der Basis», sagt Önder Günes von der Föderation islamischer Dachorganisationen der Schweiz. Nur ein Bruchteil der Muslime besuche jede Woche das Freitagsgebet. «Entweder besucht man die traditionelle Moschee, wie man sie kennt, oder man lässt es sein», vermutet Günes. Es sei wahrscheinlicher, dass man sich von den Moscheen abwende, als dass man diese reformieren wolle.
Frauen und Männer beten gemeinsam
Das merkt auch Jasmin El Sonbati. Die Muslimin ist Romanistin und unterrichtet am Gymnasium Leonhard in Basel. Immer wieder organisiert sie Gottesdienste unter dem Namen «Offene Moschee Schweiz».
Geld ist nicht unser grösstes Problem.
Frauen und Männer könnten dort gemeinsam beten – auch unter weiblicher Leitung. Doch noch fehlten die Besucher, manchmal kämen nur ein paar Menschen. «Wir stehen ganz am Anfang», sagt El Sonbati.
«Wandermoschee passt zur Schweiz»
Das ist auch ein europäisches Phänomen. Das Interesse an progressiven Muslimen ist oft bei Nicht-Muslimen am grössten. Wenn Seyran Ateş in Berlin in die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee einlädt, sind meistens mehr Leibwächter und neugierige Christen anwesend als Muslime.
Auch wegen des geringen Interesses von Schweizer Muslimen will El Sonbati keine Moschee gründen. Sie setzt auf ein dezentrales Modell – mit Gottesdiensten mal in Zürich, Basel oder Bern. «Eine Wandermoschee passt besser zum Föderalismus», sagt El Sonbati.
«Brauchen einen langen Atem»
Als nächstes ist die «Offene Moschee Schweiz» in Zürich zu Gast – am 19. September in der St. Anna-Kapelle. Miete muss die Gruppe nicht zahlen, die Werbung erfolgt über Facebook. «Mit mehr Geld könnten wir mehr machen», sagt El Sonbati.
Stiftungen und Organisationen dürften sich etwas grösszügiger zeigen, findet sie – betont aber zugleich: «Geld ist nicht unser grösstes Problem. Eher der lange Atem, den wir für unser Anliegen brauchen.»