Freikirchen und evangelikale Kirchen sind weltweit auf Erfolgskurs. Ihre starken Zuwachsraten fallen auf. Die Herausforderungen, die mit dem Erfolg evangelikaler Gruppierungen einhergehen, müssen wir ernst nehmen, sagt die Theologin Isabelle Noth.
SRF: Evangelikale Kirchen sind weltweit auf Erfolgskurs. Was kennzeichnet evangelikalen Glauben?
Isabelle Noth: Das, was wir früher als pietistisch oder bibeltreu bezeichnet haben, nennen wir heute evangelikal. Evangelikale wollen nicht nur am Sonntag oder auf dem Papier Christen sein, sondern ihr ganzes Leben in den Dienst des Christentums stellen.
Evangelikale sind klar entschiedene Christen, die aber durchaus auch Mitglied der Landeskirche sein können. «Evangelikal» ist allerdings ein Sammelbegriff, bei dem man bei jeder Person genau schauen müsste, welche Färbung ihre Form der Religiosität beziehungsweise ihre Spiritualität hat.
Wie fächert sich das auf?
Es werden im Wesentlichen drei Strömungen unterschieden: die charismatischen Evangelikalen, dazu gehören etwa die Pfingstgemeinden, dann die konservativen Evangelikalen, die man früher als christliche Fundamentalisten bezeichnet hat, schliesslich gibt es die klassischen, moderat ausgerichteten Evangelikalen. Dazu zählen die Heilsarmee oder auch die evangelisch-methodistische Kirche.
All diesen Gruppierungen gemeinsam ist ihr Bezug auf die Bibel, die Bibel als Ausgangspunkt und nicht hinterfragbares Buch der Wahrheit.
Sicher ist dieses Element gerade in den konservativen Kreisen von grosser Bedeutung. Mindestens so zentral ist jedoch der Missionsauftrag und natürlich die Bekehrung.
Hinzu kommt die Vorstellung, dass es einer ganz persönlichen Beziehung zu Jesus Christus bedarf, einer Beziehung aufgrund seiner Heilstat. Dahinter steht die Vorstellung, dass Menschen von Grund auf böse sind und es der Kreuzigung und Auferstehung Jesu bedurfte, um sie zu erlösen.
Diese Erkenntnis muss persönlich angeeignet werden und in evangelikalen Kreisen als Erlebnis einer persönlichen Bekehrung Gestalt finden.
Die Landeskirchen verlieren seit Jahrzehnten an Mitgliedern, evangelikale Kreise hingegen verzeichnen weltweit einen beachtlichen Zulauf. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Die traditionellen Volkskirchen erleiden einen massiven Verlust an Relevanz. Das Vakuum, das dadurch entsteht, wird von freikirchlichen Gruppierungen geschickt genutzt. Die Stärke der Volkskirchen, offen sein zu wollen für alle, ist zugleich ihre Schwäche.
Das ist zunächst einmal die lokal-nationale Perspektive …
Richtig. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Zweidrittel der Christen nicht in einem westlichen Kontext leben, sondern in ganz anderen Teilen der Welt.
Wir sind plötzlich mit einer noch nie da gewesenen Vielfalt christlicher Lebenswelten konfrontiert.
Diese Perspektive geht häufig verloren. Was aktuell geschieht, ist, dass die Missionsbestrebungen, die früher von Europa ausgegangen sind, nach Jahrhunderten quasi wieder zurückkommen, zum Beispiel in Form charismatischer Frömmigkeitsstile.
Wir sind plötzlich mit einer noch nie da gewesenen Vielfalt christlicher Lebenswelten konfrontiert.
Muss uns der Erfolg evangelikaler Kirchen beunruhigen?
Die klaren Hierarchien innerhalb vieler evangelikaler Kreise, aber auch die zum Teil generalstabsmässigen «Eroberungspläne» von Gebieten durch Mission oder Kirchengründungen haben etwas sehr Patriarchales.
«Macht und Geschlecht» ist ein grosses Thema in Bezug auf evangelikale Kreise, durchaus zuungunsten der Frauen. In den reformierten Schweizer Landeskirchen legen wir sehr viel Wert auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Deshalb missfällt mir die konservative Wertehaltung, wie sie in gewissen evangelikalen Kreisen gepflegt und gelehrt wird.
Auf welche Bedürfnisse unserer Zeit reagieren evangelikale Kirchen?
Wir leben in einer Zeit der Verunsicherung und der Individualisierung. Als soziale Wesen suchen wir aber Gemeinschaft und nicht Einsamkeit.
In Freikirchen findet fast alles innerhalb der Gemeinschaft statt: Freizeit, Familie, Gottesdienste. Freikirchen erfüllen das Bedürfnis, als Individuum angesprochen zu werden, und dennoch stark eingebunden zu sein und dazu zu gehören.
Die Stärke der Volkskirchen, offen sein zu wollen für alle, ist zugleich ihre Schwäche.
Besteht nicht die Gefahr, dass sich auf lange Sicht christlich fundierte Parallelgesellschaften herausbilden, ähnlich den islamistischen Parallelgesellschaften?
Ich glaube, solche Parallelgemeinschaften existieren bereits. Umso wichtiger ist es von Seiten der Landeskirchen, proaktiv Kontakt zu suchen und Formen des Gemeinsamen finden.
Eine Möglichkeit wäre, gemeinsam in Chören zu singen. Mit solchen und anderen Aktivitäten liesse sich das Verbindende betonen. Es würde daran erinnern, dass wir alle Christinnen und Christen sind. Gerade von freikirchlichen Strömungen, wie sie von Migranten mitgebracht werden, können wir viel lernen.
Wäre es ein Auftrag an die Landeskirchen, den Dialog zu suchen?
Die Landeskirchen suchen diesen Dialog bereits intensiv. Das Wichtigste ist wohl anzuerkennen, dass das, was evangelikale Gruppierungen leben und uns vorzeigen, ebenfalls christlich ist.
Charismatische Formen gehörten immer schon zum Christentum, denken Sie nur an 1. Korinther 12: «Dies alles aber wirkt ein und derselbe Geist, der jedem auf besondere Weise zuteilt, wie er es will.»
Das ist wahrlich nichts Neues, auch wenn es uns jetzt manchmal neu und fremd erscheint.
Das Gespräch führte Bernard Senn.