Der Kanton Thurgau gehörte in den 1970er-Jahren zu den Pionierkantonen, die Frühfranzösisch in der Primarschule einführten. Ausgerechnet dort sollen die Kinder nun bis Ende der sechsten Klasse nur noch Englisch lernen. So hat es der Thurgauer Grosse Rat beschlossen. Die Begründung: Es fehle der eindeutige wissenschaftliche Beweis, dass Frühstarter eine Sprache besser beherrschten.
Der Entscheid hat heftige Reaktionen ausgelöst. Die welschen Erziehungsdirektoren zeigten sich schockiert, und auch Bundesrat Alain Berset äusserte sich kritisch. Der Unterricht in einer zweiten Landessprache sei «für den nationalen Zusammenhalt von wesentlicher Bedeutung».
Steht mit der Abschaffung des Frühfranzösisch-Unterrichts tatsächlich der nationale Zusammenhalt der Schweiz auf dem Spiel? SRF Kultur hat darüber mit Isabelle Chassot gesprochen, Direktorin des Bundesamtes für Kultur.
Frau Chassot, nicht nur Bundesrat Alain Berset macht sich Sorgen darüber, dass Französisch in der Deutschschweiz zunehmend unter Druck gerät, auch Sie selbst haben sich bereits mehrfach bedauernd über diese Entwicklung geäussert. Weshalb?
Isabelle Chassot: Was mir Sorge macht, ist das immer stärker fehlende Bewusstsein dafür, was uns als Land verbindet, was die Schweiz ausmacht: die Mehrsprachigkeit und der Umgang mit Minderheiten. Eine Landessprache ist mehr als nur ein Kommunikationsmittel.
Das Thurgauer Kantonsparlament will den Französisch-Unterricht auf der Primarstufe abschaffen. Was ist daran so schlimm?
Zwei Tatsachen haben mich bei diesem Entscheid traurig gemacht: Erstens die Begründung, Englisch sei eine Weltsprache und deshalb viel wichtiger als Französisch, das nur eine Landessprache sei. Das ist Indifferenz gegenüber der kulturellen Vielfalt der Schweiz, eine Nicht-Anerkennung der Schweiz als mehrsprachiges Land.
Zweitens ist damit eine Chance vertan worden für die Kinder selber. Es ist ein grosser Unterschied für ein Kind, ob es mit 9 oder 11 Jahren anfängt, eine Landessprache zu lernen. Oder erst mit 13 und dann nur noch für 3 Jahre.
Aber genau das ist unter Pädagogen umstritten: Die Frage, ob ein möglichst früher Fremdsprachenunterricht wirklich auch zu sprachkompetenteren Schülern führt. Es gibt Studien, die das Gegenteil behaupten.
Die Meinungen dazu sind sehr unterschiedlich. Die letzte Studie, die ich gelesen habe zeigt: Es ist für die Schüler zwar eine Herausforderung, eine zweite Sprache zu lernen, aber sie haben Freude daran. Mühe bekunden vor allem die Lehrerinnen und Lehrer. Die Frage des Französisch Lernens ist aber klar nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine politische Frage in einem mehrsprachigen Land wie der Schweiz. Diesem Aspekt ist im Thurgau zu wenig Rechnung getragen worden.
Das Verständnis für die andere Landessprache als Garant für den Zusammenhalt des Landes: Ist das nicht ein wenig zu einfach gedacht?
Die Mehrsprachigkeit ist eines der Elemente, die unser Land zusammenhalten. Klar ist es nicht das einzige, aber ein wichtiges. Dazu kommt für mich natürlich auch die Vielfalt der Schweiz und der Föderalismus, der uns eben diese Vielfalt und die Mehrsprachigkeit erleben lässt. Die Mehrsprachigkeit ist aber auch ein Bekenntnis zum nötigen Respekt der Mehrheit gegenüber der Minderheit. Und das macht unser Land aus.
Welchen Beitrag leistet die Kultur, um das gegenseitige Verständnis zwischen den Sprachregionen zu fördern?
Ist ein gesamtschweizerisches Interesse gegeben wie beim Thema Mehrsprachigkeit, muss der Bund intervenieren. Er muss zur Geltung zu bringen, was uns verbindet und aufzeigen, dass die Vielfalt erhalten bleiben muss: Das ist die Rolle des Bundesamtes für Kultur.
Sie waren Staatsrätin im Kanton Freiburg. Was kann die Schweiz von Freiburg lernen?
Die Schweiz kann von Freiburg, einem zweisprachigen Kanton mit einer Minderheit von einem Drittel Deutschsprachigen, lernen, dass das, was uns verbindet, viel stärker ist als das, was uns unterscheidet. Wichtig ist, dass der Wille zum Zusammenleben jeden Tag genährt wird. Zweisprachigkeit ist nicht einfach so gegeben und für die Ewigkeit gesichert. Es braucht Respekt vor der Minderheit, gegenseitiges Verständnis, kontinuierlichen Dialog. Und ein Verständnis für die Verschiedenheit, die diese Sprache und ihre Kultur mitbringen. Ich sage immer: Was Freiburg im Kleinen kann mit zwei Sprachen, sollte für ein Land wie die Schweiz mit vier Sprachen auch möglich sein. Mühelos.