Grigory Okhotin kämpft seit zwölf Jahren für ein freies Russland. Die Gefahr, die sein Engagement mit sich bringt, nimmt er in Kauf: «In Russland riskieren wir unsere Freiheit, wir können ins Gefängnis kommen. Ausserhalb Russlands riskieren wir, vergiftet zu werden. Bislang sind wir weder verhaftet noch vergiftet worden».
Man müsse verrückt sein, um sich in Russland politisch zu engagieren! «Und die meisten Leute sind nicht verrückt.» Doch Grigory Okhotin ist so ein Verrückter. Sein Freund Daniil Beilinson ebenfalls. Ende 2011 haben die beiden eine Organisation gegründet, die sich für politische Gefangene in Russland einsetzt: OVD-Info.
Aus einer Hau-Ruck-Aktion entstanden
Okhotin und Beilinson leben heute nicht mehr in Russland. Sie sind ins europäische Ausland emigriert, kurz vor beziehungsweise kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Wo sie heute leben, wollen sie nicht verraten – aus Sicherheitsgründen.
Grigory Okhotin, schmales, blasses Gesicht und feste Stimme, ist 40 Jahre alt. Er hat lange als Journalist gearbeitet. Sein Freund Daniil Beilinson, 33, ist Programmierer. Beide sind in Moskau aufgewachsen, beide kommen aus Familien, die schon zu Sowjetzeiten kritisch waren.
Sie gründen OVD-Info in einer Hau-Ruck-Aktion Ende 2011: «Zwei Tage und zwei Nächte sassen wir bei mir zu Hause und haben die Homepage gebaut. Am 6. Dezember hatten wir die Idee, am 10. Dezember ging unsere Seite online», erzählt Grigory Okhotin.
Vom Journalisten zum Aktivisten
Damals, Anfang Dezember 2011, finden in Russland Parlamentswahlen statt. Dabei werden massiv Stimmen gefälscht – zu Gunsten von Wladimir Putins Partei «Einiges Russland». In allen grösseren russischen Städten demonstrieren die Menschen dagegen. Allein in Moskau gehen 2011 mehr als 100’000 Menschen auf die Strasse. Grigory Okhotin berichtet als Journalist über die Proteste. Daniil Beilinson ist als Aktivist mit dabei.
Die Sicherheitsbehörden greifen hart durch: Hunderte Protestierende werden verhaftet – auch eine Gruppe von freiwilligen Wahlbeobachtern, über die Grigory Okhotin eine Reportage schreiben will. Er macht sich auf den Weg zu einer Polizeidienststelle, um nach ihnen zu sehen.
«In diesem Moment habe ich vermutlich eine Grenze überschritten: Ich bin vom Journalisten zum Menschenrechtler geworden», sagt Okhotin. «Damals dachte ich: Wenn ich zur Polizei komme und meinen Presseausweis zeige, werden die Beamten die Wahlbeobachter freilassen.»
OVD-Info arbeitet rund um die Uhr
Doch die Beamten lassen die Wahlbeobachter nicht frei – obwohl es illegal ist, sie festzuhalten. Also klappert Okhotin weitere Polizeistationen ab, um herauszufinden, wer wo verhaftet worden ist. Auf einer dieser Dienststellen trifft er Daniil Beilinson.
In mühevoller Kleinarbeit erstellen die beiden eine Liste mit den Namen der Verhafteten. Als Grigory Okhotin diese Liste am nächsten Tag in einer Moskauer Zeitschrift veröffentlicht, sind die Reaktionen überwältigend: Alle, die protestiert haben, oder Leute kennen, die verhaftet wurden, wollen die Liste sehen.
Okhotin und Beilinson wird klar: Es gibt Bedarf an einer Organisation, die dokumentiert, was mit politischen Gefangenen passiert. Kurzentschlossen gründen die beiden genau solch eine Organisation: OVD-Info.
Das Projekt wird schnell zu ihrer Hauptbeschäftigung. Die beiden richten eine telefonische Hotline ein: Dort kann man rund um die Uhr anrufen und sich von Juristen und Juristinnen beraten lassen.
Eine neue Art von Menschenrechtsarbeit
Einer, der Okhotin und Beilinson aus ihrer Anfangszeit kennt, ist Russlandexperte Stefan Melle. Er ist Leiter des Dialogbüros für zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit Ost- und Südosteuropa in Wien. «Dass die beiden so schnell und zuverlässig über politische Repressionen informiert haben, war damals wirklich eine Entdeckung. Das war wie das Aufstossen einer Tür zu einer neuen Art von Menschenrechtsarbeit – und letztlich auch von Widerstand.»
Heute arbeitet OVD-Info mit rund 500 Juristinnen und Juristen zusammen. Sie vertreten politische Gefangene auch vor Gericht – kostenlos. Diesen Service stellt OVD-Info in ganz Russland zur Verfügung. Damit decken sie ein Gebiet ab, das elf Zeitzonen umfasst.
Die Menschenrechts-Organisation finanziert ihre Dienste über private Spenden. Seit der Gründung hat OVD-Info Spenden von knapp 200'000 Privatpersonen bekommen, erzählen Grigory Okhotin und Daniil Beilinson. Das meiste Geld kommt von Russinnen und Russen, aus dem In- und Ausland.
Ein Dorn im Auge der russischen Behörden
Zum festen Team von OVD-Info gehören rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dazu kommen rund 5000 Freiwillige, von denen die meisten noch in Russland leben. Sie alle gehen ein grosses Risiko ein. «Bis 2021 war OVD-Info in Russland ein Massenphänomen, im positiven Sinne», sagt Stefan Melle. Die Plattform sei national bekannt gewesen.
In den vergangenen drei Jahren habe sich OVD-Info auch international einen Ruf erarbeitet: Regelmässig zitieren renommierte deutsch- und englischsprachige Medien die Zahlen von OVD-Info. Zuletzt zum Beispiel nach Alexej Nawalnys Tod Mitte Februar, als das russische Regime viele Menschen bei Trauerbekundungen verhaften liess.
Auch den russischen Behörden ist nicht entgangen, wie populär OVD-Info ist: Im September 2021 brandmarkt das russische Justizministerium die Organisation als «ausländischen Agenten». Drei Monate später befindet die russische Medienaufsicht OVD-Info für schuldig, «Propaganda für Terrorismus und Extremismus» zu betreiben. Daraufhin sperrt die Behörde die Website landesweit – man kann die Homepage in Russland nur noch über eine spezielle Internetverbindung abrufen.
«OVD-Info ist resilienter als andere Organisationen»
Gänzlich zerstört haben die Behörden OVD-Info jedoch nicht. Wieso das so ist, ist auch Daniil Beilinson ein Rätsel: «Ich glaube, das Regime versucht, eine Balance zu finden: Die Repressionen sollen nicht im vollen Umfang angewandt werden, sondern nur so weit, dass die Menschen Angst bekommen. Das russische Regime hat seine Repressionsmaschinerie also noch nicht voll aufgedreht. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb es uns noch gibt.»
Stefan Melle vom Dialogbüro für zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit Ost- und Südosteuropa hat noch eine andere Vermutung: «OVD-Info besteht aus vielen einzelnen Menschen, in verschiedenen Regionen. Das ist nicht so einfach herauszureissen. Ich glaube, dadurch ist OVD-Info resilienter als andere Organisationen.»
«Wir machen weiter»
Auch wenn Grigory Okhotin und Daniil Beilinson heute im Ausland leben, sind sie permanent im Kontakt mit den Mitarbeitern von OVD-Info, die noch in Russland leben. Über die Stimmung dort sagt Grigory Okhotin: «Die Menschen in Russland fühlen sich verloren – unabhängig von ihren politischen Überzeugungen. Den Leuten geht es schlecht. Die Menschen sind sehr unsicher, was ihre Zukunft angeht. Stabilität gibt es dort nirgends.»
Das klingt düster. Auch für OVD-Info könnte sich die Lage schon bald verschlechtern, befürchtet Daniil Beilinson: «Ehrlich gesagt weiss ich nicht, ob wir unsere Arbeit in Russland morgen noch in dem Umfang leisten können, wie wir das heute tun. Aber wir machen auf jeden Fall weiter.»
Trotz allem haben die beiden immer noch Hoffnung: «Die Menschen in Russland sind nicht schlecht. Es gibt dort Millionen Leute, denen die Menschenrechte am Herzen liegen. Irgendwann wird sich das bemerkbar machen», sagt Grigory Okhotin. Auf lange Sicht sei er optimistisch. «Aber dass das russische Regime in den nächsten 34 Tagen aufgrund der Sanktionen zusammenbricht – so einen kurzfristigen Optimismus habe ich nicht.»