In seinem Glaskäfig im Gerichtssaal zog es Oleg Orlow vor, in Franz Kafkas Roman «Der Prozess» zu blättern, statt der Verhandlung grosse Beachtung zu schenken. Seine Botschaft war klar: So grausam und unbegründet wie im Roman sei auch das Verfahren gegen ihn.
Solche Verfahren sind für Orlow nichts Neues: Er war Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich in den 1980er-Jahren auf die Fahne schrieb, die Verbrechen des Stalinismus aufzuarbeiten.
Memorial wurde zu einer treibenden Kraft beim Niedergang des autoritären sowjetischen Systems. Nach dem Fall des Kommunismus stand die Gruppe für ein neues, offenes Russland. Orlow war kurze Zeit im Parlament tätig, später beriet er Wladimir Putin persönlich als Mitglied des Menschenrechtsrates des russischen Präsidenten.
Ich bekenne mich nicht schuldig und verstehe die Anklage nicht.
Diese Zeiten sind vorbei. Orlow und Memorial liessen sich nie vom russischen Staat vereinnahmen und blieben kritisch. Die russische Grossinvasion der Ukraine hat Orlow scharf verurteilt, deswegen wurde ihm vorgeworfen, er habe Russlands Armee diskreditiert.
In Anlehnung an Kafka versuchte er, die Absurdität der Vorwürfe deutlich zu machen: «Ich bekenne mich nicht schuldig und verstehe die Anklage nicht», sagte er dem Gericht.
Der Menschenrechtler Oleg Orlow und seine Prinzipien sind im heutigen Russland jedoch aus der Zeit gefallen und selber gewissermassen absurd geworden.
Das Urteil gegen ihn ist mild im Vergleich zu den jahrzehntelangen Haftstrafen, die anderen Dissidenten auferlegt werden. Solche Strafen gab es zuletzt in der Stalinzeit, die Orlow und Memorial bewältigen wollten. Doch statt einer Geschichtsbewältigung missbraucht Machthaber Putin jetzt die Geschichtsschreibung, um seinen Krieg und seine Repression zu rechtfertigen.
Für einen Oleg Orlow ist daher in der russischen Gesellschaft kein Platz mehr, auch Memorial wurde schon 2021 per Gerichtsbeschluss aufgelöst.
«Haben Sie keine Angst davor, dass die Unterdrückungsmaschinerie früher oder später auch diejenigen, die sie vorangetrieben haben, überrollen wird?», fragte Orlow seine Richter rhetorisch. «Das ist in der Geschichte schon oft passiert.»
Aber in Russland scheint die Wiederholung der Geschichte längst unaufhaltbar.