Die anstehende Europameisterschaft in England (6. bis 31. Juli) und steigende Zuschauerzahlen zeigen: Frauenfussball wird sichtbarer und populärer. Aber auch wenn die Spielerinnen der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft in Zukunft die gleichen Prämien wie ihre männlichen Kollegen erhalten sollen: Die Differenz zu den Männern mit Millionensalären und Mega-Turnieren bleibt.
Doch nicht erst bei den Profis zeigen sich Geschlechterunterschiede. Man sieht sie schon bei den Kindern auf Schweizer Pausenplätzen und Schulhöfen.
«Mädchen trauen sich oft nicht»
«Bei uns sind es vor allem Buben, die auf dem Pausenplatz tschutten», sagt die 12-jährige Sophie. Sie gehört zu den Kindern, die den Kurs als Kinderreporterin und -reporter von SRF Kids absolviert und über Fussball auf dem Pausenplatz gesprochen haben.
«Mädchen trauen sich oft nicht», erklärt sich der 11-jährige Daniel, warum Buben auch in seiner Schule beim Kicken auf dem Pausenplatz oft unter sich bleiben. Die gleichaltrige Jael sagt: «Buben denken, Mädchen seien schlechter, und spielen ihnen den Ball nicht zu.»
Was die Kinder erzählen, wird von Zahlen des Bundes unterlegt: Bei den 10- bis 14-Jährigen spielen 64 Prozent der Buben Fussball, bei den Mädchen sind es 25 Prozent.
Es gibt aber Sportarten, die weniger eindeutig von Buben oder von Mädchen ausgeübt werden. In der Stadt Zürich etwa bewegt sich der Mädchenanteil bei Schwimmen und Volleyball um 50 Prozent, wie Zahlen des Sportamts aus dem Jahr 2021 zeigen. Beim Fussball liegt der Anteil der Mädchen bei rund 15 Prozent.
Frühe Rollenbilder
Warum setzen sich gerade beim Fussball schon früh Geschlechterbilder fest? Marianne Meier, Sportpädagogin und Historikerin vom Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Uni Bern, verweist auf das Elternhaus: «Es ist auch heute oft so, dass Buben beklatscht und ermutigt werden, wenn sie den Ball am Fuss haben. Mädchen stossen eher auf Gleichgültigkeit.»
Zusätzlich Einfluss haben Rollenbilder: Fussball der Männer ist weltweit die populärste Sportart und zählt auf Nationalmannschafts- wie auch auf Clubebene Milliarden von Fans. So ist die Fussball-WM der Männer der weltweit am meisten beachtete Sportanlass.
Laut dem Weltverband Fifa verfolgten über 1.1 Milliarden Menschen den Final der letzten Austragung zwischen Frankreich und Kroatien. Zum Vergleich: Der WM-Final der Frauen 2019 zwischen den USA und den Niederlanden hatte weltweit gut 80 Millionen Zuschauer.
«Fussball ist in unseren Breitengraden historisch gesehen eine Männersportart und hat enorme Sichtbarkeit», sagt Marianne Meier. Diese Sichtbarkeit schaffe Vorbilder, allerdings vor allem männliche vom starken, selbstbewussten, erfolgreichen Fussballer.
«Das Bild des männlichen Fussballhelden lässt sich zusätzlich gut vermarkten», sagt Marianne Meier. So werde Kindern früh vermittelt, dass diese Vorbilder gefragt und sozial anerkannt seien.
Dass die Schulen hier vorderhand ein Spiegel der Gesellschaft seien, meint auch Barbara Egger, Co-Präsidentin des Schweizerischen Verbands für Sport in der Schule: «Fussball war über Jahre männlich geprägt. Es braucht Zeit, bis sich dieses Bild auflöst.»
Nicht zuletzt durch die erhöhte Sichtbarkeit der Frauen im Fussball sei hier aber eine Veränderung im Gang, sagt Egger: «Ich sehe, dass sich immer mehr junge Frauen trauen, auch in gemischten Gruppen auf dem Pausenplatz Fussball zu spielen.»
Sportunterricht in der Verantwortung
Viele Fussballvereine und die Verbände haben in den letzten Jahren investiert, um Mädchen und Frauen zu fördern – im Nachwuchs- und auch Profibereich. Doch welche Rolle haben die Schulen, speziell auch der Sportunterricht?
LCH-Präsidentin Dagmar Rösler sagt: «Eine Aufgabe der Schule ist es, Neues aufzuzeigen und zu ermöglichen.» Hier habe sich das Bewusstsein von Geschlechterstereotypen in den letzten Jahren geschärft.
Das gilt laut Rösler für Bereiche wie Fächervorlieben, wo vorgefertigte Bilder (Buben mögen Mathe, Mädchen mögen Sprachen) anzutreffen sind, aber eben auch für den Sportunterricht mit ebenfalls verbreiteten Stereotypen (Buben mögen Fussball, Mädchen wollen tanzen).
«Geschlechterstereotypen werden in den Weiterbildungen thematisiert», sagt Dagmar Rösler. Das Thema sei ja nicht nur im Sport, sondern auch im Alltag relevant – etwa, wenn es um die Berufswahl der Kinder gehe.
Lehrpersonen werden heute schon in der Ausbildung und Weiterbildungen sensibilisiert für das Thema. Mit Blick auf den Sportunterricht ist für Rösler dabei klar, dass vorgefertigte Bilder nur aufgelöst werden können, wenn die Lehrkräfte eine ganze Palette an Möglichkeiten einbringen. Der Sportunterricht dürfe sich nicht auf einige wenige Sportarten beschränken. Denn alle Geschlechter sollen die unterschiedlichsten Aktivitäten ausprobieren können.
Genderforscherin Marianne Meier sieht gerade hier die gesellschaftliche Bedeutung des Sports an der Schule: «Der Sportunterricht hat die Chance, Sportarten neutral zu vermitteln.» Die eingeübten Meinungen, welche die Kinder von Zuhause mitbringen, könnten dort auf spielerische Art entkräftet werden.
Sensibilisierte Lehrkräfte
Dafür braucht es aber geschulte Lehrpersonen, welche für das Thema sensibilisiert sind und entsprechende didaktische Mittel kennen, so Meier. Ein wichtiger Aspekt ist aus ihrer Sicht die Sprache: «Die Lehrpersonen müssen wissen, dass sie eben nicht von einem ‹Meitlipass› sprechen sollten, wenn sie einen schlechten Pass meinen.»
Das Thema betrifft aber auch die konkrete Gestaltung des Sportunterrichts. Als Beispiel nennt Marianne Meier die verbreitete, aber kontraproduktive Regel beim gemischten Fussballspiel, die Tore von Mädchen doppelt zu zählen.«Die simple Botschaft dabei ist, dass Mädchen schlechter spielen.»
Sinnvoller wäre etwa die Regel, ein Tor nur dann zu zählen, wenn vorher alle im Team den Ball berührt haben, sagt Meier. In diesem Fall spielt das Geschlecht keine Rolle.
Meier hält es zudem für wichtig, die Vorurteile der Kinder zu thematisieren. Die Lehrperson könnte gemeinsam mit den Kindern der Frage nachgehen, was die Klischees von Mädchen und Buben im Fussball sind. «Diese Klischees vielleicht auch mal übertrieben im Spiel darzustellen und diese danach zu diskutieren, kann zu ganz neuen Perspektiven führen», sagt Marianne Meier.
Selbstvertrauen als Schlüssel
Dass der Sportunterricht eine entscheidende Rolle spiele, betont auch Schulsport-Lehrerin Barbara Egger. Sie spricht dem Selbstvertrauen der Kinder eine besondere Bedeutung zu: «Auch Mädchen, die sehr gut tschutten, trauen sich nicht zum Spiel mit Buben, wenn ihr Selbstvertrauen niedrig ist. Das weiss man aus Studien.»
Die Mädchen könnten sich mehr melden, die Buben könnten ihnen mehr zupassen.
Ein wichtiges Ziel des Sportunterrichts sieht Egger dementsprechend darin, dass sich die Kinder das Mitspielen unabhängig vom eigenen Können zutrauen. Dafür sei es wichtig, dass Buben und Mädchen in Kleingruppen trainieren können: Kleingruppen, die immer wieder neu zusammengesetzt sind.
Das können auch Gruppen sein, die nach Geschlechtern getrennt sind: «Zurückhaltende Mädchen trauen sich eher, wenn sie mit anderen, vielleicht ebenfalls eher schüchternen Mädchen spielen. So können sie ausprobieren, sich entwickeln.»
In Gruppen mit unterschiedlichen Niveaus können Kinder auch beim anderen abschauen, wie mutig er oder sie ist, sagt Barbara Egger. «So trauen sie es sich selbst auch eher zu.»
Gleichzeitig sollen die Kinder aber auch in Gruppen spielen, in denen unterschiedliche Niveaus vertreten sind: Buben, die vielleicht seit Jahren Fussball spielen, trainieren gemeinsam mit Mädchen, die wenig Erfahrung haben. Voneinander zu lernen, motiviere zusätzlich, sagt Egger. Der Sportunterricht müsse beide Aufträge erfüllen: Entwicklung und Motivation.
Wunsch vs. Realität
Konzepte und Ideen für geschlechterneutralen Sportunterricht und Fussballtrainings gibt es also. Doch werden sie in den Turnhallen und auf den Sportplätzen tatsächlich umgesetzt?
Trainings in unterschiedlichen Gruppen sei an einigen Schulen bereits Realität, sagt Sportlehrerin Egger. Dort wird ein Teil der Sportlektionen nach Geschlechtern getrennt, ein anderer Teil gemischt durchgeführt.
Wie genderneutral Sportunterricht und Schulsport tatsächlich ausfallen, ist zu einem grossen Teil aber auch abhängig von der zuständigen Lehrperson, sagt Barbara Egger. Der Schulsport-Verband engagiere sich hier mit Weiterbildungen für Lehrpersonen, auch in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Fussballverband.
«Ein Anfang ist gemacht, das Thema fliesst vermehrt in die Ausbildung der Lehrkräfte ein», beobachtet auch Genderforscherin Marianne Meier.
In der Praxis sieht Meier jedoch noch viele Gegenbeispiele: «Es wird so gemacht, wie es immer schon gemacht wurde.» Nach wie vor ist oft die Rede vom ‹Mädchenfussball› – im Unterschied zum ‹normalen› Fussball, wie ihn Buben spielen.
«Einfach mal fragen»
Und was sagen Kinder zur Frage, wie sich alle Geschlechter für Fussball auf dem Pausenplatz begeistern liessen? «Die Mädchen könnten sich mehr melden, die Buben könnten ihnen mehr zupassen», meint Sophie.
Der 11-jährige Daniel: «Wir könnten einmal die Mädchen spielen lassen. Dann werden sie besser und trauen sich mehr zu.» Und Luis nachdenklich: «Vielleicht sollten wir die Mädchen einfach mal fragen, ob sie mitspielen wollen.»