Es ist immer dieselbe Frau, die vor meinem Basler Supermarkt steht. Und dem jungen Mann mit kaputter Sonnenbrille begegne ich am Bahnhof Luzern seit Jahren. Soll ich etwas geben oder nicht?
Heikler Umgang mit Bettelnden
Die meisten bezweifeln, dass ihr Zweifränkler im Pappbecher wirklich hilft. Ist der Fünfliber im Hut eines bettelnden Menschen nachhaltig? Einige befürchten, dass sie mit ihrer Spende Zwangsbettelei oder eine Drogensucht unterstützen.
Viele Mitmenschen sind auch deshalb dazu übergegangen, statt Geld Lebensmittel zu geben, was aber nicht immer zielführend ist.
Wir bleiben in der Zwickmühle: Wir, Staat und Gesellschaft, müssen Armut grundsätzlich bekämpfen. Ist es nicht nachhaltiger, die Armutsbekämpfung staatlichen Akteuren und gemeinnützigen Organisationen zu überlassen, anstatt mit punktuellen Kleinspenden zu helfen?
Einem bittenden Menschen nichts zu geben, fällt mir richtig schwer. Ich versuche, ihn oder sie wenigstens anzulächeln und zu grüssen.
Private sind hilflos gegen das System Armut
Armut ist ein komplexes und strukturelles Problem. Trotzdem geben viele immer mal wieder etwas auf die Hand. Das sei auch gut und richtig, meint der reformierte Theologe Christoph Sigrist. Mit so einer Gabe setzten wir ein Zeichen: «Geben Sie doch situativ. Ein Franken kratzt die meisten von uns doch überhaupt nicht.»
Viele geben regelmässig, auch auf der Strasse. Sie empfinden es als moralische Pflicht, einem Menschen, der sie direkt bittet, zu geben. Viele begründen dies auch mit religiöser Ethik. Im Matthäusevangelium steht etwa: «Bittet, so wird Dir gegeben, klopfet an, so wird Euch aufgetan».
Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist hatte in der Begegnung mit einer obdachlosen Mutter aus Rumänien geradezu ein Offenbarungserlebnis: «Im Gesicht dieser armen Frau, dieser Bettlerin begegnete mir Jesus Christus.» Und der reformierte Pfarrer fügt sofort hinzu, dass im Islam ganz ähnlich geglaubt wird: «Im Armen begegnet Dir Allah.»
Praktische Nächstenliebe, diakonisches, also sozial-karitatives, Handeln sind konstitutiv für die Kirche, weiss der Zürcher Pfarrer Sigrist, der auch Diakoniewissenschaftler ist.
Ihre Wurzel hat die sozialethische Ausrichtung der Kirche im Judentum. Dort hat der Satz «Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst» seinen Ursprung. Im Judentum heisst die Pflicht, mit Armen zu teilen «Zedakah». Und das heisst «Gerechtigkeit».
Wohltätigkeit als «Reparatur der Welt»
Philanthropie und Wohltätigkeit sind also keine «Gönnerei» und keine milde Gabe. «Zedakah» ist Gottesdienst in und an der Welt. Die jüdische Ethik nennt das auch «Reparatur der Welt». Dann wäre Armut also ein Schaden im System, der auch systematisch repariert werden müsste.
Auch im Islam ist es essenziell, Bettelnden zu geben, mit den Armen zu teilen, Essen zu verteilen. «Zekah» oder «Zakat» ist eine der fünf Säulen des Glaubens. Das wird oft tendenziös mit «Almosengeben» übersetzt. «Zakat» meint wörtlich aber «Reinheit, Lauterkeit, Zuwachs».
Gerechtigkeit – keine Almosen
Zwar steckt im alten deutschen Wort «Almosen» das Wort «Erbarmen» und «Mitgefühl». Almosen hat in unseren Ohren heute aber einen schlechten Klang.
Die meisten Hilfswerke benutzen das Wort «Almosen» darum nicht mehr. Auch weil darin ein Machtgefälle zwischen Gebenden und Empfangenen mitschwinge, erklärt Caritas-Mitarbeiter Domenico Sposato.
Helfen auf Augenhöhe, aber wie?
Caritas-Mitarbeiter Sposato ist vorsichtig mit dem Geldgeben und rät stattdessen zu Gutscheinen. Damit könnten armutsbetroffene Menschen in einem Sozialmarkt selbst einkaufen: gute Lebensmittel und Hygieneartikel. Alkohol und Tabakwaren gebe es hier nicht.
Gutscheine empfinden andere als paternalistisch, als wohlmeinend übergriffig. Und manche Betroffene finden es schon demütigend, in so einem Caritas-Markt einkaufen zu müssen. Ist das nicht wieder eine Isolation und deshalb typisch für Armut?
Armut grenzt aus
Arme Menschen bleiben von vielem ausgeschlossen. Besonders Kinder leiden darunter, wenn ihre Eltern gestresst sind von der Armut oder wenn sie selbst nicht teilhaben können, etwa an Schul- oder Ferienlagern.
Die Caritas Schweiz spricht von über 100'000 Kindern, die hierzulande unter und knapp über der offiziellen Armutsgrenze leben. Je nachdem, bei welchem Monatseinkommen man die Armutsgrenze zieht, steige die traurige Statistik noch. Domenico Sposato rechnet vor, dass etwa 700'000 Menschen in der Schweiz vom Armutsstress betroffen sind.
Sposato verteidigt darum auch die Gutscheinstrategie. Im Caritas-Markt könnten die Menschen frei wählen zwischen verschiedenen Qualitätsprodukten. Das ist etwas anderes, als ein vorsortiertes Essenspaket beziehen zu müssen, also: nehmen müssen, was kommt.
Bettlerinnen halten uns Spiegel vor
Einen aufgeräumten Markt und freundliche Ansprache mit Sozialkontakten gebe es im Caritas-Markt gratis dazu. Die Kontakte und das Gespräch sind hier mindestens so wichtig wie die materielle Hilfe, sagt Domenico Sposato.
Dem stimmt auch der reformierte Grossmünsterpfarrer Sigrist zu. Er rede regelmässig mit Bettlerinnen und Bettlern. Er will sie kennen. Und würde sie nie von seiner Kirche wegweisen. Arme gehören dort hin. Sie halten uns Nicht-Armen den Spiegel vor.
Bettelnde machen Armut sichtbar, zeigen die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft. Sie spiegeln auch die Angst, die in vielen von uns Nicht-Armen steckt: dass man selbst in Armut abrutschen könnte. Damit erklärt sich Pfarrer Sigrist auch die Ablehnung und Aggressivität, die so manchen Bettelnden entgegenschlägt.