Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung: Die Merkmale unserer Identität sind heute Kernthemen der gesellschaftlichen Debatte. Identitätspolitik soll Privilegien und Missstände aufzeigen – und spaltet nebenbei unsere Gesellschaft.
Das meint Yascha Mounk, einer der gefragtesten Forscher über die Krise der liberalen Demokratie. Der deutsch-amerikanische Politologe und Podcaster («The Good Fight») polarisiert mit seinem Plädoyer für «über-ideologische Redefreiheit».
Trump und die Latinos
Als Hochschullehrer in den USA ist Yascha Mounk ganz nah dran an den Entwicklungen, die womöglich zur Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten führen könnten. Überraschend sei dabei, dass die Republikaner auch Mehrheiten unter der schwarzen und Latino-Bevölkerung bei der kommenden Wahl für sich gewinnen könnten.
Das liegt am Wandel der Demokratischen Partei zu einer Partei der Gebildeten und Wohlhabenden, ist sich Mounk sicher. Die Anliegen der Arbeiterklasse wurden gegen «Wokeness» und Identitätspolitik eingetauscht.
Polarisierung auf dem Vormarsch
Sein neu erschienenes Buch «Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee» beleuchtet, wie der politische Zeitgeist der linksliberalen, gutsituierten Gesellschaft die Nöte der schlechter Gestellten zunehmend aus dem Blick verliert und rechtspopulistische, antidemokratische Parteien an Macht und Einfluss gewinnen.
«Es gibt einen roten Faden zwischen diesen beiden Sorgen», sagt er. Auch in Europa seien «woke» und liberale Ideologien mit schuld an der Polarisierung und dem Hass auf die Elite.
«Wir verlieren etwas»
Mounk wurde als Sohn polnischer Eltern in Deutschland geboren. Die eigene Identität definiert er auch über seine jüdische Herkunft. «Damit habe ich auch überhaupt kein Problem», sagt er, denn in unserer multikulturellen Gesellschaft seien diverse Identitäten eine Bereicherung.
In den USA war ich plötzlich Repräsentant der grössten Tätergruppe: der Weissen.
«Aber ich finde, wenn wir uns in der Gesellschaft so sehr auf die Identität fokussieren, dass wir uns darüber definieren müssen, dann verlieren wir etwas.» Menschen solidarisieren sich nur noch innerhalb der eigenen Gruppe. Das schafft Gräben und schürt Konflikte.
Bloss keine Sonderbehandlung
Mounk bezieht sich dabei oft auf seine eigene Erfahrung. «Als ich in Deutschland aufwuchs, war ich der Vertreter der wichtigsten Opfergruppe. Dann bin ich in die USA ausgewandert und war plötzlich Repräsentant der grössten Tätergruppe: der Weissen».
Er jedoch plädiert für Gleichbehandlung statt Sonderbehandlung – in beide Richtungen. Er kritisiert, «dass wir uns im Gespräch nicht mehr als Menschen begegnen, sondern als Repräsentanten dieser Identitätsgruppen».
«Kultur der Angst»
Es sei zudem eine «Kultur der Angst» entstanden, etwas Falsches zu sagen. Jenseits der Sozialen Medien betreffe das auch die gefühlte Meinungsfreiheit der Menschen im eigenen Bekanntenkreis. Ihren Frust liessen sie dann an der Wahlurne aus.
Das Vertrauen in Institutionen über Zensur zu entscheiden, fehlt Mounk. «Wir brauchen ein überparteiliches und über-ideologisches Bekenntnis zur Redefreiheit, denn niemand weiss, was die politische Situation von morgen sein wird und wer dann plötzlich zum Schweigen gebracht wird.»