Krimis und True Crime faszinieren, da sie Sünden und menschliche Abgründe beleuchten. Die Geschichten enden oft mit einer Verurteilung. Doch im echten Leben beginnt erst danach die Aufarbeitung der Tat und der entstandenen Schuld. Welche Bedeutung haben Sünde und Schuld heutzutage? Einer, der es wissen muss, ist Joe Bausch, der vor der Kamera und hinter Gittern mit Sündern zu tun hat.
SRF: Ist das Konzept der Sünde eigentlich in allen Menschen angelegt?
Joe Bausch: Ich glaube schon, dass es so etwas wie eine anthropologische Konstante in uns gibt. Es ist mit einem Betriebssystem vergleichbar: So prägen beispielsweise die Erziehung, Familie oder Peer-Gruppen unser Verhalten in der Gesellschaft von Kindesbeinen an. Im Endeffekt sind es immer die gleichen Archetypen, die wir betrachten. Dabei ist besonders interessant, die gesellschaftlichen Entwicklung zu beobachten: Womit mache ich mich heute schuldig? Es gibt Sachen, die zu Beginn meines Lebens noch als sündhaft erachtet wurden und heute in der Gesellschaft akzeptiert werden.
Sind die Todsünden heute überhaupt noch aktuell?
Gewisse Todsünden erscheinen in ihren Bezeichnungen veraltet. Habgier könnte heute eher mit Gier, Völlerei mit Verschwendungssucht übersetzt werden. Dennoch stellen die Todsünden immer noch ein pragmatisch funktionierendes Modell dar, das archetypische Darstellungen von menschlichen Charakteren erfasst.
Das Bedürfnis, von Sünde erlöst zu werden, bleibt bestehen.
Überträgt man dies auf eine Skala von null bis zehn, würde man bis zum Level fünf ein relativ unfallfreies und schadloses Leben führen. Darüber hinaus offenbart sich schädliches Verhalten, entweder der eigenen Person oder den Mitmenschen gegenüber. Das heisst, dass man sich schuldig macht und dies Sanktionen bedarf.
Wie unterscheiden sich die Begriffe der Sünde und Schuld im Kontext der Kirche und der Gerichtsbarkeit?
Sünde und Schuld waren immer nahezu identische Begriffe: Indem man sich versündigt, macht man sich schuldig. Während die Gerichtsbarkeit eine nachweislich begangene Tat verhandelt, wird in der Kirche bereits die Absicht zur Sünde als Schuld erachtet – so reichen hier schon Gedankengänge aus, um sich zu versündigen.
Die Autorität der Kirche nimmt ab. Wer erlöst uns heute von unseren Sünden?
Die Todsünden hatten in ihrer Konzeption eine reglementierende Wirkung auf das Verhalten in einer Gesellschaft. Die Kirche als Institution hatte in früheren Zeiten die Autorität inne, Menschen von ihren Sünden zu erlösen.
Im Gefängnis ist die Erlösung einfach: der amtliche Entlassungstermin.
Heute gehen die Menschen nicht mehr in die Kirche, sondern suchen in virtuellen Filterblasen nach Bestätigung. Wir leben in einer Gesellschaft von Rechthabern, die sich im Internet und in den sozialen Medien gegenseitig beweihräuchern. Insofern ist das gar nicht so weit von dem entfernt, was man früher in Kirchen suchte: Das Bedürfnis der Menschen, von Sünde und Schuld erlöst zu werden, bleibt weiterhin bestehen. Der Mensch will Sünde grundsätzlich vergessen, denn Erlösung von Sünde stellt einen wichtigen Aspekt in Beziehungen von Menschen dar. Das Monopol der Religion auf die Erlösungsfunktion hat sich auf andere Bereiche wie das Internet oder der Psychologie ausgeweitet. Im Gefängnis ist die Erlösung einfach und klar: Irgendwann kommt der amtliche Endstrafen-Termin, und man wird entlassen.
Gestehen sich Täter im Gefängnis ihre Schuld, beziehungsweise ihre Sünde, auch selbst ein?
Viele Leute versuchen während des Gerichtsprozesses durch Leugnen oder Verharmlosen der Tat ihre Haftstrafe zu mildern. Nach der Verurteilung ändert sich diese Einstellung oft: Die meisten erkennen klar ihre Fehler. Selbst Affekttäter wissen um ihre fehlende Impulskontrolle. Viele leiden stark unter ihren Taten und können nicht ertragen, was sie getan haben. Einige bestrafen sich selbst härter, als es das Gesetz vorsieht – was dann eine selbstzerstörerische Tendenz aufweisen kann.
Wie haben Sie es geschafft, Tätern ohne Vorurteil zu begegnen?
Dass ich mit menschlichen Abgründen und dem Scheitern beschäftigte, lässt mich nicht verbittern. Für mich ist immer wichtig, dass man sich ganz klar mit den Tätern auseinandersetzt, versucht ihre Biografie und Geschichte zu begreifen und zu ergründen. Eine bereits frühe Auseinandersetzung mit Tätern in meinem Leben hat dazu geführt, dass ich später ähnlichen Charakteren empathisch und ohne Vorteil gegenübersitzen konnte.
Das Gespräch ist eine verkürzte Fassung der Sternstunde Religion und wurde von Ahmad Milad Karimi geführt.